Donnerstag, 10. Oktober 2013

Bienvenue en Banlieue Rouge

Liebes Internet,

wie du vielleicht schon erfahren hast, habe ich ein Buch geschrieben. Derzeit bin ich noch dabei, mit diversen eBook-Programmen rumzuspielen, damit ich es online stellen kann. Ich werde das Buch nicht auf Papier herausbringen - zu teuer. Ich werde es auch nicht Amazon, dem Holtzbrinck-Verlag oder Apple in den Rachen werfen - ich habe es zum Spaß geschrieben, warum soll ich jetzt plötzlich beginnen, Geld dafür zu verlangen? Dennoch bietet mir das Internet die Möglichkeit, es anderen Menschen zur Verfügung zu stellen, die an der Materie Interesse haben.

Und ich glaube, ich habe einen Titel gefunden: "Bienvenue en Banlieue Rouge - Mein Jahr mit dem Red Star FC". Nicht besonders originell, aber was soll's.

Um die Wartezeit zu verkürzen, veröffentliche ich hier vorab das Vorwort, das mein lieber Freund Joachim Henn geschrieben hat.


Liebe Leserin, lieber Leser,

dies ist die Geschichte des Studienjahres 2011/12, das ich als Austauschstudent an der Université Paris III Sorbonne Nouvelle verbracht habe. Während dieses Jahres habe ich eine Obsession für den Red Star FC entwickelt, den Fußballclub des Stadtviertels, in dem ich wohnte. Vereine wie Red Star gibt es nur noch wenige in Europa. Durch die fortschreitende Ökonomisierung des Fußballsports ist die Fußballerfahrung, die ich während dieses unvergesslichen Jahres gemacht habe, bedroht. Auch der Red Star FC steht vor einschneidenden Veränderungen. Das Stadion, in dem seit 1909 die Heimspiele ausgetragen werden, steht vor dem Abriss. Da die Bedrohung in meinem Buch nur am Rande besprochen wird, habe ich Joachim Henn gebeten, das Vorwort zu diesem Text zu leisten. Joachim Henn war zu Beginn der 90er-Jahre als junger Mann ein halbes Jahr in Paris, hat ebenso wie ich eine Obsession für den Red Star FC entwickelt und ist der größte (einzige) Red-Star-Experte im deutschsprachigen Raum. Wenn der eine oder andere Leser, die eine oder andere Leserin sich unserem Engagement für das Weiterbestehen des Stade Bauer anschließt, so haben wir unser Ziel erreicht.

Christoph Heshmatpour, 30. September 2013





Vorwort
Joachim Henn

An dem Abend, an dem mich Christoph Heshmatpours Manuskript erreicht, befinde ich mich in Andalusien und sehe im Fernsehen die Vorbereitungen zum letzten Spiel im Stadion San Mamés zu Bilbao, dem Stadion, das die Fans „La Catédral“ getauft haben. Ein Rednerpult ist auf dem Spielfeld aufgebaut, Spieler stehen Spalier, Honoratioren geben sich die Ehre. Alles wirkt sehr feierlich, auf den Rängen sieht man den einen oder anderen Zuschauer weinen. Dann zeigen sie uralte Schwarz-Weiß-Aufnahmen vom San Mamés, aus Zeiten des spanischen Bürgerkriegs, von Spielen im Schnee und Männern mit alten Lederstiefeln. Im Anschluss daran erscheint eine 3-D-Animation auf dem Bildschirm. Zweifelsfrei vom neuen Stadion. Es entsteht direkt neben dem alten. San Mamés Barria wird es heißen. Ich winke meine Freundin herbei.

„Guck mal, das ist das Neue.“
„Aber warum bauen sie denn ein Neues?“
„Weil alle ein Neues bauen.“
„Das leuchtet mir nicht ein.“

Mir auch nicht.

Christoph Heshmatpours Geschichte ist die von den Rändern des Lebens in der Metropole. Es ist die Geschichte eines Vororts, seines Fußballvereins und damit auch seines Stadions, des Stade de Paris, das eigentlich nur noch bekannt ist unter dem Namen Stade Bauer. An einer Stelle seiner Aufzeichnungen charakterisiert er es etwas despektierlich als „alten Kasten“. Damit meint er einerseits dessen Zustand, denn seit der Orkan „Lothar“ 1999 der Gegentribüne das Wellblechdach entriss, hat die Kommune, Eigentümerin des Stadions, zunächst einmal lediglich das herumliegende Wellblechgerümpel und die beschädigten Holzbänke entfernen lassen. Dort, wo die Zuschauer nur ein Jahr vor dem Sturm noch Zweitligafußball sehen konnten, wuchert seit mehr als einem Jahrzehnt das Unkraut zwischen den Stufen. Und auch in anderen Bereichen des Stadions geht die Instandhaltung eher schleppend voran. Der schleichende Verfall der Spielstätte seit der Jahrtausendwende geht einige Jahre lang aber auch einher mit dem sportlichen Niedergang des dort ansässigen, einst so stolzen Vereins Red Star, aber dazu später.

Mit dem „alten Kasten“ meint Heshmatpour aber auch die unzeitgemäße Architektur des übrig gebliebenen Teils des Stade Bauer. Die Menschen bezeichnen sie als „englisch“, da sie angelehnt ist an die ersten großen englischen Stadien, die Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet wurden. Stadionarchitektur erzählt - wie jedes andere städtebauliche Element - immer auch etwas über ihre Zeit. Architektur hilft uns, eine Brücke zu schlagen von der Vergangenheit in die Gegenwart; zu verstehen, wie man dort hingekommen ist, wo man sich jetzt befindet. Sieht man sich die heutigen Stadien an, gleicht eines wie ein Ei dem anderen. Ob man sich im Inneren beispielsweise der Arenen Hamburg oder Gelsenkirchen befindet, verraten allenfalls Nuancen, und es gibt kein Element, an dem sich das Auge festhalten und der Gleichförmigkeit im weiten Rund entkommen kann. Das gilt genauso für kleinere Stadien mit einer geringeren Kapazität. Ihre Architektur ist eigentlich keine Architektur mehr, sondern bloßes Design, konfektioniert, und damit gleichen sie den Autos, Warenhäusern, Büroblöcken und den Innenstädten unserer Zeit. Ihnen gemeinsam ist die Tendenz zur Beschränkung auf reine Funktionalität.

Universell dürfte in weiten Teilen Europas die Problematik der Verdrängung der Stehplätze sein, die symbolisch für die Transformation des Stadions als Ort steht: Das Stadion war früher nicht zuletzt ein Ort der Zusammenkunft.  Selten ist mir das bewusster geworden als an dem lauen Spätsommerabend Anfang der 1990er, als ich mich erstmals auf den Stufen der Nordtribüne des Stade Bauer einfand. Dort bot sich mir ein Bild lebhafter Geschäftigkeit, das mich an das Gewusel in einen Basar oder einem Gemischtwarenladen erinnerte, aber jedenfalls an nichts, was ich bislang in einem Fußballstadion gesehen hatte. Menschen allen Alters, aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten, unterschiedlicher Herkunft und entsprechend unterschiedlichstem kulturellem Hintergrund hatten sich dort eingefunden und teilten sich in diesen Momenten den Raum. Ein paar standen, die meisten aber hockten auf den Stufen. Die einen lasen Zeitung, andere hatten sich in hitzige Debatten verbissen, wieder andere kauten gedankenverloren Pistazien und nicht wenige hatten gleich ihr ganzes Abendessen in Plastiktüten mitgebracht, die Bestandteile auf den Stufen verteilt und aßen. Genaugenommen aßen sie nicht, sie picknickten. Fehlte eigentlich nur noch der mitgebrachte Grill auf den Rängen. Diese Tribüne hatte den Charakter eines öffentlichen Platzes und wirkte unreglementiert, frei, wild und - heute würde man sagen: bunt. Eigentlich vermengte und verdichtete sich dort das Ambiente des einen Block entfernten berühmten Pariser Flohmarkts der Porte de Clignancourt mit dem von Saint-Ouen, dem ersten Vorort jenseits des boulevard péripherique, der die Pariser Stadtgrenze markiert.

Dieses Szenario im Stadioninneren findet  man heute in dieser Form natürlich nicht mehr - wenngleich die Einlasskontrollen noch immer legerer sind als woanders üblich. Die hinter der gleichnamigen Straße befindliche Tribune Bauer, die Nordtribüne, ist seit etlichen Jahren gesperrt und wird vermutlich erst nach einem etwaigen Wiederaufstieg in die Ligue 2 wieder öffnen. Das „Vorspiel“ begeht man im Olympic, der Kneipe direkt gegenüber dem Stadion, und selbst in der Pause verlassen einige das Stadion, um dort auch die Halbzeit sportlich zu begehen: ein, zwei Bier in knapp fünfzehn Minuten, Bestellung sowie Hin- und Rückweg bereits inbegriffen.

Jedenfalls fristeten Fans und Verein in diesem letzten Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende ein idyllisches Zweitligadasein am Rande der Stadt. Zwar war man weit davon entfernt, an die ruhmreiche Vergangenheit der 20er und 40er Jahre anzuknüpfen, als man insgesamt fünfmal den französischen Pokal gewinnen konnte. Doch in den Abschlussklassements der zweiten Division belegte der Club stets die vorderen Ränge und verpasste den Wiederaufstieg in die Eliteklasse dreimal in Folge jeweils nur knapp. Nun gab es in der Vereinshistorie von Red Star viele verrückte Volten. Einen Wendepunkt, der sich allerdings bis zum heutigen Tag nachhaltig auswirkt, markierte das Jahr 1998. Mit Austragung der Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land begriff man den Fußball auch in Frankreich plötzlich als Event. Der Fußballverband legte neue Maßstäbe für die Spielstätten der Profivereine an, und infolgedessen sollte das Stade Bauer keine weitere Ausnahmegenehmigung mehr erhalten: es genügte nicht mehr den Sicherheitsstandards des Verbands und damit den Anforderungen für Zweitligafußball. Vereinsspitze und Lokalpolitik waren zum Handeln gezwungen und einigten sich auf eine Renovierung des Stadions. Die  Verantwortlichen im Rathaus riefen einen Wettbewerb für das „neue Bauer“ aus. Die Bauzeit bis zur Fertigstellung sollte zwei Jahre, die neue Kapazität des Stadions 15.000 Plätze betragen. Gleichzeitig beschloss die Regionalversammlung des Departements die Errichtung eines „provisorischen“ Stadions, das der Club während der Bauzeit als Ersatzspielstätte nutzen sollte: Das Stade Marville. Soweit der Plan. Doch nur schlappe drei Kilometer entfernt vom Stade Bauer wurde zur WM das Stade de France gebaut. Und es zeichnete sich ab, dass es nach dem Turnier keinen dort residierenden Club und entsprechend keine Sportveranstaltungen in regelmäßigem Turnus geben sollte. Der Erstligaclub Paris St-Germain hatte dankend abgewunken und sich für den Verbleib im angestammten Prinzenparkstadion entschieden. Also glaubte der damalige Präsident von Red Star, Jean-Claude Bras, die Gunst der Stunde nutzen zu müssen und beantragte die Ansiedelung seines Clubs im 80.000 Plätze fassenden WM-Stadion. Im Rathaus von St-Ouen schrie man Zeter und Mordio, bezeichnete den Vorstoß Bras‘ als Verrat, entschädigte die fünf am Wettbewerb teilnehmenden Architekturbüros und versenkte die Pläne für die geplante Renovierung des Stade Bauer in den Schubladen. Doch es kam alles anders: Ende September 1998 lehnte der Französische Fußballverband den Umzug von Red Star ins Stade de France mangels wirtschaftlicher Voraussetzungen rundheraus ab. Zu diesem Zeitpunkt war eine Rückkehr ins Stade Bauer, geschweige denn seine Renovierung, bereits passé.

Scheinbar urplötzlich war Red Star also heimatlos geworden und fand sich in besagtem Provisorium wieder, geografisch zwar nur 6 km, gefühlt aber Welten entfernt von der gewohnten Spielstätte. an einer anderen Metro-Linie, noch im selben Departement, aber in einer anderen Stadt, fernab der angestammten Umgebung. Doch die neue Spielstätte war bei den Fans nicht nur aufgrund der veränderten geographischen Lage von Anfang an verhasst. Der Kontrast zu Bauer hätte überhaupt nicht größer sein können. Marville hat die Ausstrahlung eines vergessenen Tennisstadions am Rand eines von Landflucht gebeutelten und von Schnellstraßen umrandeten Orts. Die hingeklatschte Stahlrohrkonstruktion fasst ausnahmslos Sitzplätze, die aber nicht zum Sitzen einladen, so wie das Provisorium an sich nicht zum Verweilen einlädt. Die Ränge werden vom Spielfeld durch hohe Zäune und auch noch eine Laufbahn getrennt. Dazu befindet sich der Stahlrohrkoloss in der Anonymität eines Mehrzweck-Sportparks, eigentlich dort, wo man mittlerweile Einkaufszentren findet: auf der grünen Wiese. Marville ist nicht einmal banlieue, Marville ist ein Nicht-Ort im Niemandsland, fernab von allem. Kurzum: ein Stimmungstöter, in jeglicher Hinsicht. Bauer hingegen ist das urbane Stadion schlechthin. Mitten im Wohngebiet gelegen, bietet es neben der erwähnten Nähe zu den puces, dem Flohmarkt, von der einzigen derzeit geöffneten, der Haupttribüne, einen erstaunlichen Blick auf das höher gelegene Paris und bei Abendspielen auf das beleuchtete Sacré-Coeur auf dem Montmartre. Das Stadion ist offen, das heißt, die einzelnen Tribünen sind nicht miteinander verbunden, in der Tat wirkt das ganze Ensemble auf eine merkwürdige Art aus der Zeit gefallen. Als wäre es nur dazu da, den Beobachter der Darbietungen auf dem Rasen permanent daran zu erinnern, dass es auch noch ein Leben jenseits des grünen carré gibt, steht am Kopfende des Platzes Richtung Paris nicht etwa eine weitere Tribüne, sondern ein monströser, dreieckiger Block sozialen Wohnungsbaus, der gleichsam das Tor zur Welt öffnet: Es gibt ein Leben jenseits des gerade stattfindenden Spiels, und das unablässige, gleichförmige Rauschen des périphérique bildet den Soundtrack dafür. Die allermeisten Menschen, die dort leben, haben mit Fußball nichts am Hut und andere Sorgen, so scheint es, und doch öffnen sich ab und an die Fenster und man sieht den einen oder anderen das Spiel vom Wohnzimmer aus verfolgen. Andersherum bietet genau dieses Hochhaus einen Einblick, wenn, wie etwa im April 2009, der Verband eine Strafe verhängt und eine Partie unter Ausschluss der Öffentlichkeit anordnet. Kassenhäuschen und Eingang blieben an diesem Tag also geschlossen, aber in einer der dem Stadion zugewandten Wohnungen lebte ausgerechnet ein Onkel des damaligen Kapitäns von Red Star. So fand das Spiel zwar vor leeren Rängen statt, der Jubel über den Siegtreffer des Heimteams wurde aber von knapp zwei Dutzend Anhängern aus einer einzigen Wohnung auf den Platz hinuntergeschrieen.

Dieses Tor zur Welt jedoch blieb dem Club nach 1998 für immer verschlossen. Viele sahen in diesem Umzug ins Stade Marville sowie dem Bras‘schen Größenwahn den Anfang vom Ende des – so hieß er damals - AS Red Star 93. Und die bloßen Fakten geben ihnen recht: Am Ende derselben Saison stand nicht der ersehnte Wiederaufstieg in die erste Liga, sondern der Abstieg aus der zweiten. Was folgte, waren chaotische Jahre mit einem weiteren sportlichen und einem Zwangsabstieg, leeren Kassen und schlussendlich im Sommer 2002 die Liquidation des Vereins. Der Nachfolgeverein wiederum, der Red Star FC, von dem in diesem Buch die Rede ist, benötigte fast eine Dekade, um sich nach diesem tiefen Fall bis hinunter in die Untiefen der sechsten Liga wenigstens wieder in die Drittklassigkeit hochzuarbeiten. Und viele sehen in der Rückkehr ins Stade Bauer einen entscheidenden Faktor für die Rückkehr auf die französische Fußball-Landkarte. Die fast einhellige Meinung war damals: Red Star kommt zurück nach Hause. Diesen Teil der Geschichte muss man kennen, wenn man die aktuellen Geschehnisse begreifen will, denn wieder machen verwegene Pläne die Runde, kaum, dass sich Red Star nach all den Jahren gerade eben mühsam in der Drittklassigkeit etabliert hat.

In jener Zeit um die Jahrtausendwende formierte sich das Collectif des amis du Red Star als loser Zusammenschluss von Fans, die unabhängig vom Verein und der Vereinsspitze zu agieren und, als direkte Konsequenz der Ära Bras, den Verein nicht in all seinen Exzessen zu begleiten und unterstützen gedenken. An Spieltagen nutzen sie mit städtischer Genehmigung einen etwa fünf mal zwei Meter großen Verschlag innerhalb der Stadionmauern, das local. Es fungiert zum einen als Verkaufsraum von selbst produzierten Fan-Devotionalien, zum anderen aber auch als Ort des Informationsaustauschs. Im Laufe der Zeit ist aus der Unabhängigkeit des Collectif vom Verein ein Selbstverständnis gewachsen. Es speist sich aus einer breiten Akzeptanz bis hinein ins Rathaus und manifestiert sich in einem mittlerweile erweiterten Wirkungskreis: Statt sich wie bislang im Wesentlichen auf die Organisation von Auswärtsfahrten, die Produktion von Schals und Spendensammlungen für wohltätige Zwecke zur Weihnachtszeit zu konzentrieren, sind nun ganz andere Aktivitäten in den Vordergrund gerückt. Denn wie bereits angedeutet scheint sich die Geschichte unter leicht geänderten Vorzeichen zu wiederholen: Der aktuelle Präsident von Red Star träumt den Traum vom „zweiten Club von Paris“, also der Besetzung des Vakuums in der Pariser Fußballlandschaft hinter dem obligatorischen Paris St-Germain. Dies umso mehr, als die Geschicke des aktuellen französischen Meisters mittlerweile von arabischen Scheichs geleitet werden, die Glitzer- und Glamour-Welt in den Prinzenpark Einzug gehalten und den (letzten Rest) erdigen Fußballs verdrängt hat. Seine Vision, genannt „le projet“, verknüpft der Vereinsboss untrennbar mit dem Bau eines neuen Stadions auf einer Industriebrache am Stadtrand. Bauer hingegen soll zu einem undefinierten Zeitpunkt ab 2017 der Rücken gekehrt werden. Endgültig.

Eine klare Positionierung des Collectif hierzu hat nicht lange auf sich warten lassen. Fast zwangsläufig war die Umbenennung in Collectif Red Star Bauer. Bauer, so sagen viele Fans, wenn sie vom Stadion reden, sei die Seele des Vereins. Den Kampf für den Erhalt des Stadions und seine Renovierung begreifen die Mitglieder aber auch als Kampf um einen gemeinsamen Ort, als Verteidigung berechtigten öffentlichen Interesses, um die Definition von öffentlichem und/oder privatem Raum, im weitesten Sinn um das Recht auf Stadt. Mit diesem Widerstand bewegen sie sich freilich ganz in der Tradition des Vereins und den Spuren seiner Geschichte. So war Jean-Claude Bauer, Namenspatron von Stadion und der Straße vor der Spielstätte, ein in St-Ouen niedergelassener Arzt und Mitglied der Résistance während der Besetzung Frankreichs durch die Nazis. Er war Mitbegründer der Zeitschrift Le médecin français, die den Ärzten als Plattform für Meinungsäußerungen und Austausch im Widerstand dienen sollte und organisierte die Volksfront zur Befreiung und Unabhängigkeit Frankreichs. 1942 wurde er von der französischen Polizei verhaftet, an die Nazis ausgeliefert, von diesen gefoltert und schließlich hingerichtet. In jährlichen Gedenkfeiern der Kommune für die Opfer der nationalsozialistischen Besetzung ist Bauer ein ebenso präsenter Name wie der von Rino della Negra. Della Negra war Freischärler und Partisanenkämpfer und wurde 1944 im Alter von 21 Jahren von den Nazis hingerichtet. Im Abschiedsbrief an seine Familie bestellt er unter anderem Grüße an seine Mitspieler und den ganzen Verein, denn er war als hoffnungsvolles Talent im Alter von 19 Jahren zu Red Star gewechselt und hatte trotz seines Status als Immigrant ohne Aufenthaltsgenehmigung weiter für den Verein gespielt. Anlässlich seines 60. Todestages wurde eine Gedenkplakette am Stadion angebracht, eines von vielen Elementen, die das Gedenken an den talentierten Außenstürmer aufrechterhalten. Noch kurz vor seiner Hinrichtung hatte er an einen Freund folgende Worte geschrieben: „Im Leben gibt es keine Zuschauer. Der Vorhang öffnet sich. Ich liebe euch, ihr Menschen. Seid wachsam!“

Nicht wenige der Menschen, die zu den Spielen von Red Star gehen, sind ausgesprochen wachsam hinsichtlich der Entwicklungen im Sport, die immer auch gesellschaftliche Entwicklungen sind, und die auch ihren Verein betreffen, der Gefahr läuft, zum Spielball zu werden für wirtschaftliche Interessen im Hintergrund. Als die Werbung an den Sport andockte, an die Emotionen, die er bei den Menschen freisetzt, und gleichzeitig Spitzensport durch finanzielle Unterstützung ermöglichte, entstand zwischen dem Sport und der Werbewirtschaft eine Wechselwirkung. Das nannte man „Sportsponsoring“, der Mehrwert des Werbenden sollte der Unternehmenskommunikation zu Gute kommen. Und hier kommt Patrice Haddad ins Spiel, der Präsident von Red Star. Er ist ein Mann der Kommunikations- und PR-Branche und gleichzeitig, zumindest bis zum heutigen Tag,  Alleinaktionär des Vereins.

Doch neben dem klassischen Sportsponsoring finden sich mittlerweile ganz andere Formen der wirtschaftlichen Verflechtungen in den Sport hinein. Heute gibt es Oligarchen und Multimilliardäre, die Vereine als Spielzeug betrachten und zum Beispiel Statuen von verstorbenen Popstars ohne jeden Bezug zum Club vor dem Eingang zum Stadion errichten lassen. Der Bezug, sagt der Milliardär, ist meine persönliche Freundschaft zum Verstorbenen, und die Fans, denen diese Statue nicht passt, sollten sich gefälligst einen neuen Verein suchen. Neben solchen „Modellen“ gibt es Konzerne, die früher Betriebssportabteilungen unterhielten. Doch die Konzerne betrieben im Laufe der Zeit deren kontinuierliche Professionalisierung, die die Betriebsmannschaften zu einem ausgezeichneten Werbeträger und Aushängeschild machten. Und dann gibt es mittlerweile eine weitere Form, einen international agierenden Konzern, der Vereine „schluckt“, umbenennt, neu gründet, und das Verhältnis zum Sport umkehrt: Hierbei wird der Sport ausschließlich aus Gründen der Werbewirksamkeit betrieben. Der Verein ist ein künstliches Gebilde, das den Namen des Vereins benutzt, um die eigene Marke zu bewerben.

So weit wird es bei Red Star vermutlich nicht kommen, aber auch Patrice Haddad spricht vom Etablieren einer Marke, der Marke „Red Star“. Das verrät schon viel über sein Verständnis des Vereins und dessen künftiger Ausrichtung. Genau genommen scheint er sich des Vereins, dessen Name auf Grund seiner Vergangenheit durchaus noch eine (zumindest frankreichweit) unbestrittene Strahlkraft hat, schlichtweg bedienen zu wollen, ohne Rücksicht auf seine Historie und Identität zu nehmen, geschweige denn, diese einzubeziehen. Kern und Symbol für seine Vision ist sein Stadionprojekt: Das Stade Bauer sei nicht mehr zeitgemäß. Ein neues Stadion auf dem Gelände einer ehemaligen Raffinerie, einer kontaminierten Industriebrache, den „Docks“, soll errichtet werden, (schon wieder) in einem derzeitigen Niemandsland, das gleichzeitig erschlossen werden soll. Dass dabei das Herz des Vereins, der seit Jahrzehnten und Generationen angestammte Ort der Zusammenkunft weichen soll, ist für Haddad zwangsläufig. Dazu müsse nach seinem Verständnis lediglich „die DNA des Clubs verpflanzt“ werden. Für den überwiegenden Teil der Fans handelt es sich vermutlich eher um eine Operation am offenen Herzen, aber nicht mit dem Skalpell, sondern mit Baggern und Planierraupen, um Haddads Bild aufzugreifen.

Dazu will er sich Unterstützung von der Industrie holen und wähnt mit im Boot unter anderem die Bauriesen Bouygues und Vinci, öffentlichkeitswirksam präsentiert nach einem heimlich anberaumten Meeting in einem Nobellokal in St-Ouen. Und so, um es mit dem alten Marx zu sagen, scheint sich die Geschichte tatsächlich ein zweites Mal zu ereignen: Nach der großen Tragödie droht nun die lumpige Farce. Denn zwei Parteien des Betreiberkonsortiums des Stade de France sind genau diejenigen, die mit Haddad am Tisch saßen: Vinci, Baukonzern und laut Wikipedia Weltmarktführer im Baugewerbe, sowie Bouygues, Konzern für Hoch- und Tiefbau, Bauträger und Telekommunkation und nebenbei einer der Vereinssponsoren.

Dass sie als wichtigste Fangruppierung nicht zu diesem Meeting eingeladen oder wenigstens darüber informiert war, ja dass der Präsident im Nachgang nur noch intern, aber niemals öffentlich die Kommunikation mit der Vereinigung gesucht hatte, erzürnte das Collectif. Dabei ist, und das ist das Groteske an Haddads Plänen, das Umfeld des Vereins, wie auch aus Christoph Heshmatpours Aufzeichnungen deutlich wird, völlig überschaubar. Zugespitzt gesagt kennt hier jeder jeden, und in besseren Zeiten begrüßte der Präsident auf dem Weg ins Stadion die Umstehenden und Geschäftigen am local per Handschlag. Kein Wunder, denn die Zuschauerzahlen sind überschaubar und überschreiten selten die 1.500. Selbst zu Zweitligazeiten kamen nur gegen Traditionsvereine wie Saint-Étienne oder Marseille, die sich kurzfristig in die Niederungen des Unterhauses verirrt hatten, wesentlich mehr als die üblichen Verdächtigen. Die Stadionkapazität ist derzeit völlig ausreichend, die Umzugspläne basieren, rein wirtschaftlich betrachtet, auf einem Potenzial, das erst noch geweckt werden muss, für den Zeitpunkt des Wiederaufstiegs in die 2. Liga, der erst noch errungen werden muss – und selbst unter diesen Umständen ist fraglich, ob sich diese Vision durchsetzen könnte: Es scheiterten schon mehrere Versuche kläglich, einen zweiten großen Verein in Paris zu etablieren, der nicht aus sich selbst heraus gewachsen ist. Und ohnehin wird Red Star, wenn überhaupt, in Paris als Verein der banlieue wahrgenommen. Alles in allem eine Vision mit sehr vielen Fragezeichen.

Doch dessen ungeachtet scheinen sie überall so abzulaufen, die Geschäfte: In Hinterzimmern, auch und gerade über die Köpfe von Betroffenen hinweg. In so einer Gemengelage stört der aufgeklärte Fan nur. Er soll gefälligst ins Stadion kommen und seine Funktion als Statist, Kulissengeber und Konsument wahrnehmen: Beifall klatschen, konsumieren und dann bitte schön die Schnauze halten. Und genau hier setzt das Collectif Red Star Bauer an. Die Gruppierung will eine öffentliche Debatte über die Zukunft des Stadions in Gang bringen und setzt hierzu alle Hebel in Bewegung, nicht zuletzt über den Weg ins Rathaus, wo man den nicht schlecht staunenden versammelten Stadträten und der Bürgermeisterin mit Hilfe zweier Architekten einen umfassenden, je nach sportlicher Situation und Bedarf stufenweise umsetzbaren Umbauplan für Bauer unter Einbeziehung stadtplanerischer Optionen und Einbindung des ganzen Viertels präsentiert. Schon allein das entschlossene und unerwartet professionelle Auftreten im Rathaus macht Eindruck. „Die haben“, erzählt der Lange vom Collectif schmunzelnd, „allen Ernstes geglaubt, da kommt eine Horde Fans mit Schals und Dosenbier.“ Bei Stadtfesten und sonstigen Veranstaltungen im Ort macht das Collectif Öffentlichkeitsarbeit, hat eine neue Webseite aufgezogen (www.stadebauer.fr), auf der alle erarbeiteten Pläne und Entwürfe im Detail sowie neueste Entwicklungen abzurufen sind, knüpfte Kontakte ins In- und Ausland und zeigte im Stadion mit Transparenten und im Wahlkampf für die anstehenden Bürgermeisterwahlen Flagge: Nicht für eine der Parteien, sondern für die ureigene Sache, zu der die politische Ebene Stellung beziehen muss, denn das Stadion ist noch immer in städtischem Besitz. Die Vereinigung der ehemaligen Spieler hat mittlerweile offiziell ebenso Position für Erhalt und Renovierung des Stade Bauer ergriffen wie der Vereinschronist: Die Palastrevolution ist im Gange.

Bei so viel Gegenwind kam Vereinsboss Haddad schließlich nicht mehr umhin, die Interessierten zu einer weiteren, diesmal öffentlichen Veranstaltung zu laden, um im Beisein von Sportdirektor Marlet (von dem auf den folgenden Seiten noch das eine oder andere Mal die Rede sein wird) sein Projekt vorzustellen: Neben dem Stadion soll auch gleich noch eine Multifunktionshalle aus dem Boden gestampft werden, das alles für 200 Mio. €, die er ausschließlich aus Mitteln der Privatwirtschaft auftreiben will, und die den Verein zum alleinigen Eigentümer des Stadions machen sollen. Aufklärung darüber, wie er eine solche Summe in wirtschaftlich unsicheren Zeiten bei derart vagen Renditeaussichten auftreiben will, bleibt er schuldig. Alle Bedenken gegen sein zumindest derzeit völlig überdimensioniertes Vorhaben wischt er ebenso vom Tisch wie die vom Collectif entwickelten Alternativen, freilich ohne diese auch nur in Erwägung zu ziehen, geschweige denn zu prüfen: „Der Kampf um Bauer kann nicht gewonnen werden“, lässt er wissen. Der Großteil der Anwesenden sieht das naturgemäß etwas anders.

Unter ihnen befindet sich auch Bernard Dubois, ehemaliger Spieler des Vereins und in der vierten Generation wohnhaft in St-Ouen. Er appelliert in einem offenen Brief an die Bürgermeisterin, das kulturelle Erbe des Stadions zu erhalten. Er schreibt:

In meiner Kindheit gab es die Ferienkolonie, das Patronat, die Michelet-Schule mit ihrem zugehörigen Stadion etc., und es gab… Bauer. Wissen Sie, Madame, was sich alles auf diesem Rasen zugetragen hat? Auf diesem mythischen Gelände spielten sich weit mehr als nur Fußballspiele ab. Wie können Sie es zulassen, dass dieses Stadion, das den Namen eines von den Faschisten ermordeten Widerstandskämpfers trägt, zerstört wird? […] Wollen Sie es zulassen, dass diese Tribünen, auf denen die Überlebenden der Schoah neben meinem Vater – im Alter von 18 Jahren von den Nazis „kassiert“ – saßen, den Bulldozern der entfernten Cousins der Menschen überlassen werden, die die Nazis dem Widerstand vorzogen? Wollen Sie einen Sportplatz dem Showbiz ausliefern? […] Im Namen all der Überlebenden der Nazibarbarei, die wieder etwas Lebensfreude gewannen beim Ansehen eines Spiels von Red Star in diesem Stadion: Erhalten Sie Bauer, ein Symbol des widerständigen Volkes!

Nun ist es nicht so, dass derlei Worte und Werte keinen Widerhall fänden. Die besondere kulturelle Bedeutung von Ort und Verein wird auch auf der politischen Ebene durchaus anerkannt. So sagte die Bürgermeisterin Rouillon anlässlich der Rückkehr des Clubs ins Stade Bauer im Jahr 2002: „Red Star bewahrt sich durch die Ausbildung der Jugendspieler eine Ethik, er [der Verein] transportiert andere Werte als der übrige Fußball.“ Wieviel von dieser Aussage auch künftig noch Gültigkeit hat, wird sich auf der politischen Ebene entscheiden. So hat die noch immer amtierende Bürgermeisterin heute, mehr als eine Dekade später, nach dem Auftritt des Collectif im Rathaus zwar die Erstellung einer Machbarkeitsstudie nebst Kostenplan zugesagt. Doch - rein zufällig? - dauert deren Erstellung ein halbes Jahr, sodass sie erst nach den Wahlen vorliegen wird. Und gerade die Bürgermeisterin hat schon mehrfach vorsichtig die „Docks“ ins Spiel gebracht. Doch eine eindeutige Positionierung wird man von ihr nicht hören: Noch ist Wahlkampf in St-Ouen. Wie auch immer die Wahl ausgeht, das Damoklesschwert schwebt in jedem Fall über Bauer. Denn bei einem Abriss des Stadions wird die Fläche zu Bauland, das auf Grund seiner Lage Höchstpreise verspricht. Zudem ist St-Ouen ist die Kommune mit der dritthöchsten Pro-Kopf-Verschuldung Frankreichs. So droht die ganze Geschichte am Ende den üblichen Mechanismen von Immobilienprojekten und Spekulationsblasen zu folgen. Doch das wird Gegenstand einer anderen Geschichte sein, die erst noch zu schreiben sein wird.

Die Geschichte von Christoph Heshmatpour, der ein Jahr lang innerhalb und jenseits der Stadtgrenzen von Paris lebte, streift all dies und deutet in ihrem Facettenreichtum weit über den Fußball hinaus; Heshmatpour wirft auf ebenso humorvolle wie kurzweilige Weise ein Schlaglicht auf die Menschen, Einheimische wie Touristen, die Dynamik der Metropole und ihre Kultur im Wandel.


Joachim Henn

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