Donnerstag, 10. Oktober 2013

Bienvenue en Banlieue Rouge

Liebes Internet,

wie du vielleicht schon erfahren hast, habe ich ein Buch geschrieben. Derzeit bin ich noch dabei, mit diversen eBook-Programmen rumzuspielen, damit ich es online stellen kann. Ich werde das Buch nicht auf Papier herausbringen - zu teuer. Ich werde es auch nicht Amazon, dem Holtzbrinck-Verlag oder Apple in den Rachen werfen - ich habe es zum Spaß geschrieben, warum soll ich jetzt plötzlich beginnen, Geld dafür zu verlangen? Dennoch bietet mir das Internet die Möglichkeit, es anderen Menschen zur Verfügung zu stellen, die an der Materie Interesse haben.

Und ich glaube, ich habe einen Titel gefunden: "Bienvenue en Banlieue Rouge - Mein Jahr mit dem Red Star FC". Nicht besonders originell, aber was soll's.

Um die Wartezeit zu verkürzen, veröffentliche ich hier vorab das Vorwort, das mein lieber Freund Joachim Henn geschrieben hat.


Liebe Leserin, lieber Leser,

dies ist die Geschichte des Studienjahres 2011/12, das ich als Austauschstudent an der Université Paris III Sorbonne Nouvelle verbracht habe. Während dieses Jahres habe ich eine Obsession für den Red Star FC entwickelt, den Fußballclub des Stadtviertels, in dem ich wohnte. Vereine wie Red Star gibt es nur noch wenige in Europa. Durch die fortschreitende Ökonomisierung des Fußballsports ist die Fußballerfahrung, die ich während dieses unvergesslichen Jahres gemacht habe, bedroht. Auch der Red Star FC steht vor einschneidenden Veränderungen. Das Stadion, in dem seit 1909 die Heimspiele ausgetragen werden, steht vor dem Abriss. Da die Bedrohung in meinem Buch nur am Rande besprochen wird, habe ich Joachim Henn gebeten, das Vorwort zu diesem Text zu leisten. Joachim Henn war zu Beginn der 90er-Jahre als junger Mann ein halbes Jahr in Paris, hat ebenso wie ich eine Obsession für den Red Star FC entwickelt und ist der größte (einzige) Red-Star-Experte im deutschsprachigen Raum. Wenn der eine oder andere Leser, die eine oder andere Leserin sich unserem Engagement für das Weiterbestehen des Stade Bauer anschließt, so haben wir unser Ziel erreicht.

Christoph Heshmatpour, 30. September 2013





Vorwort
Joachim Henn

An dem Abend, an dem mich Christoph Heshmatpours Manuskript erreicht, befinde ich mich in Andalusien und sehe im Fernsehen die Vorbereitungen zum letzten Spiel im Stadion San Mamés zu Bilbao, dem Stadion, das die Fans „La Catédral“ getauft haben. Ein Rednerpult ist auf dem Spielfeld aufgebaut, Spieler stehen Spalier, Honoratioren geben sich die Ehre. Alles wirkt sehr feierlich, auf den Rängen sieht man den einen oder anderen Zuschauer weinen. Dann zeigen sie uralte Schwarz-Weiß-Aufnahmen vom San Mamés, aus Zeiten des spanischen Bürgerkriegs, von Spielen im Schnee und Männern mit alten Lederstiefeln. Im Anschluss daran erscheint eine 3-D-Animation auf dem Bildschirm. Zweifelsfrei vom neuen Stadion. Es entsteht direkt neben dem alten. San Mamés Barria wird es heißen. Ich winke meine Freundin herbei.

„Guck mal, das ist das Neue.“
„Aber warum bauen sie denn ein Neues?“
„Weil alle ein Neues bauen.“
„Das leuchtet mir nicht ein.“

Mir auch nicht.

Christoph Heshmatpours Geschichte ist die von den Rändern des Lebens in der Metropole. Es ist die Geschichte eines Vororts, seines Fußballvereins und damit auch seines Stadions, des Stade de Paris, das eigentlich nur noch bekannt ist unter dem Namen Stade Bauer. An einer Stelle seiner Aufzeichnungen charakterisiert er es etwas despektierlich als „alten Kasten“. Damit meint er einerseits dessen Zustand, denn seit der Orkan „Lothar“ 1999 der Gegentribüne das Wellblechdach entriss, hat die Kommune, Eigentümerin des Stadions, zunächst einmal lediglich das herumliegende Wellblechgerümpel und die beschädigten Holzbänke entfernen lassen. Dort, wo die Zuschauer nur ein Jahr vor dem Sturm noch Zweitligafußball sehen konnten, wuchert seit mehr als einem Jahrzehnt das Unkraut zwischen den Stufen. Und auch in anderen Bereichen des Stadions geht die Instandhaltung eher schleppend voran. Der schleichende Verfall der Spielstätte seit der Jahrtausendwende geht einige Jahre lang aber auch einher mit dem sportlichen Niedergang des dort ansässigen, einst so stolzen Vereins Red Star, aber dazu später.

Mit dem „alten Kasten“ meint Heshmatpour aber auch die unzeitgemäße Architektur des übrig gebliebenen Teils des Stade Bauer. Die Menschen bezeichnen sie als „englisch“, da sie angelehnt ist an die ersten großen englischen Stadien, die Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet wurden. Stadionarchitektur erzählt - wie jedes andere städtebauliche Element - immer auch etwas über ihre Zeit. Architektur hilft uns, eine Brücke zu schlagen von der Vergangenheit in die Gegenwart; zu verstehen, wie man dort hingekommen ist, wo man sich jetzt befindet. Sieht man sich die heutigen Stadien an, gleicht eines wie ein Ei dem anderen. Ob man sich im Inneren beispielsweise der Arenen Hamburg oder Gelsenkirchen befindet, verraten allenfalls Nuancen, und es gibt kein Element, an dem sich das Auge festhalten und der Gleichförmigkeit im weiten Rund entkommen kann. Das gilt genauso für kleinere Stadien mit einer geringeren Kapazität. Ihre Architektur ist eigentlich keine Architektur mehr, sondern bloßes Design, konfektioniert, und damit gleichen sie den Autos, Warenhäusern, Büroblöcken und den Innenstädten unserer Zeit. Ihnen gemeinsam ist die Tendenz zur Beschränkung auf reine Funktionalität.

Universell dürfte in weiten Teilen Europas die Problematik der Verdrängung der Stehplätze sein, die symbolisch für die Transformation des Stadions als Ort steht: Das Stadion war früher nicht zuletzt ein Ort der Zusammenkunft.  Selten ist mir das bewusster geworden als an dem lauen Spätsommerabend Anfang der 1990er, als ich mich erstmals auf den Stufen der Nordtribüne des Stade Bauer einfand. Dort bot sich mir ein Bild lebhafter Geschäftigkeit, das mich an das Gewusel in einen Basar oder einem Gemischtwarenladen erinnerte, aber jedenfalls an nichts, was ich bislang in einem Fußballstadion gesehen hatte. Menschen allen Alters, aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten, unterschiedlicher Herkunft und entsprechend unterschiedlichstem kulturellem Hintergrund hatten sich dort eingefunden und teilten sich in diesen Momenten den Raum. Ein paar standen, die meisten aber hockten auf den Stufen. Die einen lasen Zeitung, andere hatten sich in hitzige Debatten verbissen, wieder andere kauten gedankenverloren Pistazien und nicht wenige hatten gleich ihr ganzes Abendessen in Plastiktüten mitgebracht, die Bestandteile auf den Stufen verteilt und aßen. Genaugenommen aßen sie nicht, sie picknickten. Fehlte eigentlich nur noch der mitgebrachte Grill auf den Rängen. Diese Tribüne hatte den Charakter eines öffentlichen Platzes und wirkte unreglementiert, frei, wild und - heute würde man sagen: bunt. Eigentlich vermengte und verdichtete sich dort das Ambiente des einen Block entfernten berühmten Pariser Flohmarkts der Porte de Clignancourt mit dem von Saint-Ouen, dem ersten Vorort jenseits des boulevard péripherique, der die Pariser Stadtgrenze markiert.

Dieses Szenario im Stadioninneren findet  man heute in dieser Form natürlich nicht mehr - wenngleich die Einlasskontrollen noch immer legerer sind als woanders üblich. Die hinter der gleichnamigen Straße befindliche Tribune Bauer, die Nordtribüne, ist seit etlichen Jahren gesperrt und wird vermutlich erst nach einem etwaigen Wiederaufstieg in die Ligue 2 wieder öffnen. Das „Vorspiel“ begeht man im Olympic, der Kneipe direkt gegenüber dem Stadion, und selbst in der Pause verlassen einige das Stadion, um dort auch die Halbzeit sportlich zu begehen: ein, zwei Bier in knapp fünfzehn Minuten, Bestellung sowie Hin- und Rückweg bereits inbegriffen.

Jedenfalls fristeten Fans und Verein in diesem letzten Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende ein idyllisches Zweitligadasein am Rande der Stadt. Zwar war man weit davon entfernt, an die ruhmreiche Vergangenheit der 20er und 40er Jahre anzuknüpfen, als man insgesamt fünfmal den französischen Pokal gewinnen konnte. Doch in den Abschlussklassements der zweiten Division belegte der Club stets die vorderen Ränge und verpasste den Wiederaufstieg in die Eliteklasse dreimal in Folge jeweils nur knapp. Nun gab es in der Vereinshistorie von Red Star viele verrückte Volten. Einen Wendepunkt, der sich allerdings bis zum heutigen Tag nachhaltig auswirkt, markierte das Jahr 1998. Mit Austragung der Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land begriff man den Fußball auch in Frankreich plötzlich als Event. Der Fußballverband legte neue Maßstäbe für die Spielstätten der Profivereine an, und infolgedessen sollte das Stade Bauer keine weitere Ausnahmegenehmigung mehr erhalten: es genügte nicht mehr den Sicherheitsstandards des Verbands und damit den Anforderungen für Zweitligafußball. Vereinsspitze und Lokalpolitik waren zum Handeln gezwungen und einigten sich auf eine Renovierung des Stadions. Die  Verantwortlichen im Rathaus riefen einen Wettbewerb für das „neue Bauer“ aus. Die Bauzeit bis zur Fertigstellung sollte zwei Jahre, die neue Kapazität des Stadions 15.000 Plätze betragen. Gleichzeitig beschloss die Regionalversammlung des Departements die Errichtung eines „provisorischen“ Stadions, das der Club während der Bauzeit als Ersatzspielstätte nutzen sollte: Das Stade Marville. Soweit der Plan. Doch nur schlappe drei Kilometer entfernt vom Stade Bauer wurde zur WM das Stade de France gebaut. Und es zeichnete sich ab, dass es nach dem Turnier keinen dort residierenden Club und entsprechend keine Sportveranstaltungen in regelmäßigem Turnus geben sollte. Der Erstligaclub Paris St-Germain hatte dankend abgewunken und sich für den Verbleib im angestammten Prinzenparkstadion entschieden. Also glaubte der damalige Präsident von Red Star, Jean-Claude Bras, die Gunst der Stunde nutzen zu müssen und beantragte die Ansiedelung seines Clubs im 80.000 Plätze fassenden WM-Stadion. Im Rathaus von St-Ouen schrie man Zeter und Mordio, bezeichnete den Vorstoß Bras‘ als Verrat, entschädigte die fünf am Wettbewerb teilnehmenden Architekturbüros und versenkte die Pläne für die geplante Renovierung des Stade Bauer in den Schubladen. Doch es kam alles anders: Ende September 1998 lehnte der Französische Fußballverband den Umzug von Red Star ins Stade de France mangels wirtschaftlicher Voraussetzungen rundheraus ab. Zu diesem Zeitpunkt war eine Rückkehr ins Stade Bauer, geschweige denn seine Renovierung, bereits passé.

Scheinbar urplötzlich war Red Star also heimatlos geworden und fand sich in besagtem Provisorium wieder, geografisch zwar nur 6 km, gefühlt aber Welten entfernt von der gewohnten Spielstätte. an einer anderen Metro-Linie, noch im selben Departement, aber in einer anderen Stadt, fernab der angestammten Umgebung. Doch die neue Spielstätte war bei den Fans nicht nur aufgrund der veränderten geographischen Lage von Anfang an verhasst. Der Kontrast zu Bauer hätte überhaupt nicht größer sein können. Marville hat die Ausstrahlung eines vergessenen Tennisstadions am Rand eines von Landflucht gebeutelten und von Schnellstraßen umrandeten Orts. Die hingeklatschte Stahlrohrkonstruktion fasst ausnahmslos Sitzplätze, die aber nicht zum Sitzen einladen, so wie das Provisorium an sich nicht zum Verweilen einlädt. Die Ränge werden vom Spielfeld durch hohe Zäune und auch noch eine Laufbahn getrennt. Dazu befindet sich der Stahlrohrkoloss in der Anonymität eines Mehrzweck-Sportparks, eigentlich dort, wo man mittlerweile Einkaufszentren findet: auf der grünen Wiese. Marville ist nicht einmal banlieue, Marville ist ein Nicht-Ort im Niemandsland, fernab von allem. Kurzum: ein Stimmungstöter, in jeglicher Hinsicht. Bauer hingegen ist das urbane Stadion schlechthin. Mitten im Wohngebiet gelegen, bietet es neben der erwähnten Nähe zu den puces, dem Flohmarkt, von der einzigen derzeit geöffneten, der Haupttribüne, einen erstaunlichen Blick auf das höher gelegene Paris und bei Abendspielen auf das beleuchtete Sacré-Coeur auf dem Montmartre. Das Stadion ist offen, das heißt, die einzelnen Tribünen sind nicht miteinander verbunden, in der Tat wirkt das ganze Ensemble auf eine merkwürdige Art aus der Zeit gefallen. Als wäre es nur dazu da, den Beobachter der Darbietungen auf dem Rasen permanent daran zu erinnern, dass es auch noch ein Leben jenseits des grünen carré gibt, steht am Kopfende des Platzes Richtung Paris nicht etwa eine weitere Tribüne, sondern ein monströser, dreieckiger Block sozialen Wohnungsbaus, der gleichsam das Tor zur Welt öffnet: Es gibt ein Leben jenseits des gerade stattfindenden Spiels, und das unablässige, gleichförmige Rauschen des périphérique bildet den Soundtrack dafür. Die allermeisten Menschen, die dort leben, haben mit Fußball nichts am Hut und andere Sorgen, so scheint es, und doch öffnen sich ab und an die Fenster und man sieht den einen oder anderen das Spiel vom Wohnzimmer aus verfolgen. Andersherum bietet genau dieses Hochhaus einen Einblick, wenn, wie etwa im April 2009, der Verband eine Strafe verhängt und eine Partie unter Ausschluss der Öffentlichkeit anordnet. Kassenhäuschen und Eingang blieben an diesem Tag also geschlossen, aber in einer der dem Stadion zugewandten Wohnungen lebte ausgerechnet ein Onkel des damaligen Kapitäns von Red Star. So fand das Spiel zwar vor leeren Rängen statt, der Jubel über den Siegtreffer des Heimteams wurde aber von knapp zwei Dutzend Anhängern aus einer einzigen Wohnung auf den Platz hinuntergeschrieen.

Dieses Tor zur Welt jedoch blieb dem Club nach 1998 für immer verschlossen. Viele sahen in diesem Umzug ins Stade Marville sowie dem Bras‘schen Größenwahn den Anfang vom Ende des – so hieß er damals - AS Red Star 93. Und die bloßen Fakten geben ihnen recht: Am Ende derselben Saison stand nicht der ersehnte Wiederaufstieg in die erste Liga, sondern der Abstieg aus der zweiten. Was folgte, waren chaotische Jahre mit einem weiteren sportlichen und einem Zwangsabstieg, leeren Kassen und schlussendlich im Sommer 2002 die Liquidation des Vereins. Der Nachfolgeverein wiederum, der Red Star FC, von dem in diesem Buch die Rede ist, benötigte fast eine Dekade, um sich nach diesem tiefen Fall bis hinunter in die Untiefen der sechsten Liga wenigstens wieder in die Drittklassigkeit hochzuarbeiten. Und viele sehen in der Rückkehr ins Stade Bauer einen entscheidenden Faktor für die Rückkehr auf die französische Fußball-Landkarte. Die fast einhellige Meinung war damals: Red Star kommt zurück nach Hause. Diesen Teil der Geschichte muss man kennen, wenn man die aktuellen Geschehnisse begreifen will, denn wieder machen verwegene Pläne die Runde, kaum, dass sich Red Star nach all den Jahren gerade eben mühsam in der Drittklassigkeit etabliert hat.

In jener Zeit um die Jahrtausendwende formierte sich das Collectif des amis du Red Star als loser Zusammenschluss von Fans, die unabhängig vom Verein und der Vereinsspitze zu agieren und, als direkte Konsequenz der Ära Bras, den Verein nicht in all seinen Exzessen zu begleiten und unterstützen gedenken. An Spieltagen nutzen sie mit städtischer Genehmigung einen etwa fünf mal zwei Meter großen Verschlag innerhalb der Stadionmauern, das local. Es fungiert zum einen als Verkaufsraum von selbst produzierten Fan-Devotionalien, zum anderen aber auch als Ort des Informationsaustauschs. Im Laufe der Zeit ist aus der Unabhängigkeit des Collectif vom Verein ein Selbstverständnis gewachsen. Es speist sich aus einer breiten Akzeptanz bis hinein ins Rathaus und manifestiert sich in einem mittlerweile erweiterten Wirkungskreis: Statt sich wie bislang im Wesentlichen auf die Organisation von Auswärtsfahrten, die Produktion von Schals und Spendensammlungen für wohltätige Zwecke zur Weihnachtszeit zu konzentrieren, sind nun ganz andere Aktivitäten in den Vordergrund gerückt. Denn wie bereits angedeutet scheint sich die Geschichte unter leicht geänderten Vorzeichen zu wiederholen: Der aktuelle Präsident von Red Star träumt den Traum vom „zweiten Club von Paris“, also der Besetzung des Vakuums in der Pariser Fußballlandschaft hinter dem obligatorischen Paris St-Germain. Dies umso mehr, als die Geschicke des aktuellen französischen Meisters mittlerweile von arabischen Scheichs geleitet werden, die Glitzer- und Glamour-Welt in den Prinzenpark Einzug gehalten und den (letzten Rest) erdigen Fußballs verdrängt hat. Seine Vision, genannt „le projet“, verknüpft der Vereinsboss untrennbar mit dem Bau eines neuen Stadions auf einer Industriebrache am Stadtrand. Bauer hingegen soll zu einem undefinierten Zeitpunkt ab 2017 der Rücken gekehrt werden. Endgültig.

Eine klare Positionierung des Collectif hierzu hat nicht lange auf sich warten lassen. Fast zwangsläufig war die Umbenennung in Collectif Red Star Bauer. Bauer, so sagen viele Fans, wenn sie vom Stadion reden, sei die Seele des Vereins. Den Kampf für den Erhalt des Stadions und seine Renovierung begreifen die Mitglieder aber auch als Kampf um einen gemeinsamen Ort, als Verteidigung berechtigten öffentlichen Interesses, um die Definition von öffentlichem und/oder privatem Raum, im weitesten Sinn um das Recht auf Stadt. Mit diesem Widerstand bewegen sie sich freilich ganz in der Tradition des Vereins und den Spuren seiner Geschichte. So war Jean-Claude Bauer, Namenspatron von Stadion und der Straße vor der Spielstätte, ein in St-Ouen niedergelassener Arzt und Mitglied der Résistance während der Besetzung Frankreichs durch die Nazis. Er war Mitbegründer der Zeitschrift Le médecin français, die den Ärzten als Plattform für Meinungsäußerungen und Austausch im Widerstand dienen sollte und organisierte die Volksfront zur Befreiung und Unabhängigkeit Frankreichs. 1942 wurde er von der französischen Polizei verhaftet, an die Nazis ausgeliefert, von diesen gefoltert und schließlich hingerichtet. In jährlichen Gedenkfeiern der Kommune für die Opfer der nationalsozialistischen Besetzung ist Bauer ein ebenso präsenter Name wie der von Rino della Negra. Della Negra war Freischärler und Partisanenkämpfer und wurde 1944 im Alter von 21 Jahren von den Nazis hingerichtet. Im Abschiedsbrief an seine Familie bestellt er unter anderem Grüße an seine Mitspieler und den ganzen Verein, denn er war als hoffnungsvolles Talent im Alter von 19 Jahren zu Red Star gewechselt und hatte trotz seines Status als Immigrant ohne Aufenthaltsgenehmigung weiter für den Verein gespielt. Anlässlich seines 60. Todestages wurde eine Gedenkplakette am Stadion angebracht, eines von vielen Elementen, die das Gedenken an den talentierten Außenstürmer aufrechterhalten. Noch kurz vor seiner Hinrichtung hatte er an einen Freund folgende Worte geschrieben: „Im Leben gibt es keine Zuschauer. Der Vorhang öffnet sich. Ich liebe euch, ihr Menschen. Seid wachsam!“

Nicht wenige der Menschen, die zu den Spielen von Red Star gehen, sind ausgesprochen wachsam hinsichtlich der Entwicklungen im Sport, die immer auch gesellschaftliche Entwicklungen sind, und die auch ihren Verein betreffen, der Gefahr läuft, zum Spielball zu werden für wirtschaftliche Interessen im Hintergrund. Als die Werbung an den Sport andockte, an die Emotionen, die er bei den Menschen freisetzt, und gleichzeitig Spitzensport durch finanzielle Unterstützung ermöglichte, entstand zwischen dem Sport und der Werbewirtschaft eine Wechselwirkung. Das nannte man „Sportsponsoring“, der Mehrwert des Werbenden sollte der Unternehmenskommunikation zu Gute kommen. Und hier kommt Patrice Haddad ins Spiel, der Präsident von Red Star. Er ist ein Mann der Kommunikations- und PR-Branche und gleichzeitig, zumindest bis zum heutigen Tag,  Alleinaktionär des Vereins.

Doch neben dem klassischen Sportsponsoring finden sich mittlerweile ganz andere Formen der wirtschaftlichen Verflechtungen in den Sport hinein. Heute gibt es Oligarchen und Multimilliardäre, die Vereine als Spielzeug betrachten und zum Beispiel Statuen von verstorbenen Popstars ohne jeden Bezug zum Club vor dem Eingang zum Stadion errichten lassen. Der Bezug, sagt der Milliardär, ist meine persönliche Freundschaft zum Verstorbenen, und die Fans, denen diese Statue nicht passt, sollten sich gefälligst einen neuen Verein suchen. Neben solchen „Modellen“ gibt es Konzerne, die früher Betriebssportabteilungen unterhielten. Doch die Konzerne betrieben im Laufe der Zeit deren kontinuierliche Professionalisierung, die die Betriebsmannschaften zu einem ausgezeichneten Werbeträger und Aushängeschild machten. Und dann gibt es mittlerweile eine weitere Form, einen international agierenden Konzern, der Vereine „schluckt“, umbenennt, neu gründet, und das Verhältnis zum Sport umkehrt: Hierbei wird der Sport ausschließlich aus Gründen der Werbewirksamkeit betrieben. Der Verein ist ein künstliches Gebilde, das den Namen des Vereins benutzt, um die eigene Marke zu bewerben.

So weit wird es bei Red Star vermutlich nicht kommen, aber auch Patrice Haddad spricht vom Etablieren einer Marke, der Marke „Red Star“. Das verrät schon viel über sein Verständnis des Vereins und dessen künftiger Ausrichtung. Genau genommen scheint er sich des Vereins, dessen Name auf Grund seiner Vergangenheit durchaus noch eine (zumindest frankreichweit) unbestrittene Strahlkraft hat, schlichtweg bedienen zu wollen, ohne Rücksicht auf seine Historie und Identität zu nehmen, geschweige denn, diese einzubeziehen. Kern und Symbol für seine Vision ist sein Stadionprojekt: Das Stade Bauer sei nicht mehr zeitgemäß. Ein neues Stadion auf dem Gelände einer ehemaligen Raffinerie, einer kontaminierten Industriebrache, den „Docks“, soll errichtet werden, (schon wieder) in einem derzeitigen Niemandsland, das gleichzeitig erschlossen werden soll. Dass dabei das Herz des Vereins, der seit Jahrzehnten und Generationen angestammte Ort der Zusammenkunft weichen soll, ist für Haddad zwangsläufig. Dazu müsse nach seinem Verständnis lediglich „die DNA des Clubs verpflanzt“ werden. Für den überwiegenden Teil der Fans handelt es sich vermutlich eher um eine Operation am offenen Herzen, aber nicht mit dem Skalpell, sondern mit Baggern und Planierraupen, um Haddads Bild aufzugreifen.

Dazu will er sich Unterstützung von der Industrie holen und wähnt mit im Boot unter anderem die Bauriesen Bouygues und Vinci, öffentlichkeitswirksam präsentiert nach einem heimlich anberaumten Meeting in einem Nobellokal in St-Ouen. Und so, um es mit dem alten Marx zu sagen, scheint sich die Geschichte tatsächlich ein zweites Mal zu ereignen: Nach der großen Tragödie droht nun die lumpige Farce. Denn zwei Parteien des Betreiberkonsortiums des Stade de France sind genau diejenigen, die mit Haddad am Tisch saßen: Vinci, Baukonzern und laut Wikipedia Weltmarktführer im Baugewerbe, sowie Bouygues, Konzern für Hoch- und Tiefbau, Bauträger und Telekommunkation und nebenbei einer der Vereinssponsoren.

Dass sie als wichtigste Fangruppierung nicht zu diesem Meeting eingeladen oder wenigstens darüber informiert war, ja dass der Präsident im Nachgang nur noch intern, aber niemals öffentlich die Kommunikation mit der Vereinigung gesucht hatte, erzürnte das Collectif. Dabei ist, und das ist das Groteske an Haddads Plänen, das Umfeld des Vereins, wie auch aus Christoph Heshmatpours Aufzeichnungen deutlich wird, völlig überschaubar. Zugespitzt gesagt kennt hier jeder jeden, und in besseren Zeiten begrüßte der Präsident auf dem Weg ins Stadion die Umstehenden und Geschäftigen am local per Handschlag. Kein Wunder, denn die Zuschauerzahlen sind überschaubar und überschreiten selten die 1.500. Selbst zu Zweitligazeiten kamen nur gegen Traditionsvereine wie Saint-Étienne oder Marseille, die sich kurzfristig in die Niederungen des Unterhauses verirrt hatten, wesentlich mehr als die üblichen Verdächtigen. Die Stadionkapazität ist derzeit völlig ausreichend, die Umzugspläne basieren, rein wirtschaftlich betrachtet, auf einem Potenzial, das erst noch geweckt werden muss, für den Zeitpunkt des Wiederaufstiegs in die 2. Liga, der erst noch errungen werden muss – und selbst unter diesen Umständen ist fraglich, ob sich diese Vision durchsetzen könnte: Es scheiterten schon mehrere Versuche kläglich, einen zweiten großen Verein in Paris zu etablieren, der nicht aus sich selbst heraus gewachsen ist. Und ohnehin wird Red Star, wenn überhaupt, in Paris als Verein der banlieue wahrgenommen. Alles in allem eine Vision mit sehr vielen Fragezeichen.

Doch dessen ungeachtet scheinen sie überall so abzulaufen, die Geschäfte: In Hinterzimmern, auch und gerade über die Köpfe von Betroffenen hinweg. In so einer Gemengelage stört der aufgeklärte Fan nur. Er soll gefälligst ins Stadion kommen und seine Funktion als Statist, Kulissengeber und Konsument wahrnehmen: Beifall klatschen, konsumieren und dann bitte schön die Schnauze halten. Und genau hier setzt das Collectif Red Star Bauer an. Die Gruppierung will eine öffentliche Debatte über die Zukunft des Stadions in Gang bringen und setzt hierzu alle Hebel in Bewegung, nicht zuletzt über den Weg ins Rathaus, wo man den nicht schlecht staunenden versammelten Stadträten und der Bürgermeisterin mit Hilfe zweier Architekten einen umfassenden, je nach sportlicher Situation und Bedarf stufenweise umsetzbaren Umbauplan für Bauer unter Einbeziehung stadtplanerischer Optionen und Einbindung des ganzen Viertels präsentiert. Schon allein das entschlossene und unerwartet professionelle Auftreten im Rathaus macht Eindruck. „Die haben“, erzählt der Lange vom Collectif schmunzelnd, „allen Ernstes geglaubt, da kommt eine Horde Fans mit Schals und Dosenbier.“ Bei Stadtfesten und sonstigen Veranstaltungen im Ort macht das Collectif Öffentlichkeitsarbeit, hat eine neue Webseite aufgezogen (www.stadebauer.fr), auf der alle erarbeiteten Pläne und Entwürfe im Detail sowie neueste Entwicklungen abzurufen sind, knüpfte Kontakte ins In- und Ausland und zeigte im Stadion mit Transparenten und im Wahlkampf für die anstehenden Bürgermeisterwahlen Flagge: Nicht für eine der Parteien, sondern für die ureigene Sache, zu der die politische Ebene Stellung beziehen muss, denn das Stadion ist noch immer in städtischem Besitz. Die Vereinigung der ehemaligen Spieler hat mittlerweile offiziell ebenso Position für Erhalt und Renovierung des Stade Bauer ergriffen wie der Vereinschronist: Die Palastrevolution ist im Gange.

Bei so viel Gegenwind kam Vereinsboss Haddad schließlich nicht mehr umhin, die Interessierten zu einer weiteren, diesmal öffentlichen Veranstaltung zu laden, um im Beisein von Sportdirektor Marlet (von dem auf den folgenden Seiten noch das eine oder andere Mal die Rede sein wird) sein Projekt vorzustellen: Neben dem Stadion soll auch gleich noch eine Multifunktionshalle aus dem Boden gestampft werden, das alles für 200 Mio. €, die er ausschließlich aus Mitteln der Privatwirtschaft auftreiben will, und die den Verein zum alleinigen Eigentümer des Stadions machen sollen. Aufklärung darüber, wie er eine solche Summe in wirtschaftlich unsicheren Zeiten bei derart vagen Renditeaussichten auftreiben will, bleibt er schuldig. Alle Bedenken gegen sein zumindest derzeit völlig überdimensioniertes Vorhaben wischt er ebenso vom Tisch wie die vom Collectif entwickelten Alternativen, freilich ohne diese auch nur in Erwägung zu ziehen, geschweige denn zu prüfen: „Der Kampf um Bauer kann nicht gewonnen werden“, lässt er wissen. Der Großteil der Anwesenden sieht das naturgemäß etwas anders.

Unter ihnen befindet sich auch Bernard Dubois, ehemaliger Spieler des Vereins und in der vierten Generation wohnhaft in St-Ouen. Er appelliert in einem offenen Brief an die Bürgermeisterin, das kulturelle Erbe des Stadions zu erhalten. Er schreibt:

In meiner Kindheit gab es die Ferienkolonie, das Patronat, die Michelet-Schule mit ihrem zugehörigen Stadion etc., und es gab… Bauer. Wissen Sie, Madame, was sich alles auf diesem Rasen zugetragen hat? Auf diesem mythischen Gelände spielten sich weit mehr als nur Fußballspiele ab. Wie können Sie es zulassen, dass dieses Stadion, das den Namen eines von den Faschisten ermordeten Widerstandskämpfers trägt, zerstört wird? […] Wollen Sie es zulassen, dass diese Tribünen, auf denen die Überlebenden der Schoah neben meinem Vater – im Alter von 18 Jahren von den Nazis „kassiert“ – saßen, den Bulldozern der entfernten Cousins der Menschen überlassen werden, die die Nazis dem Widerstand vorzogen? Wollen Sie einen Sportplatz dem Showbiz ausliefern? […] Im Namen all der Überlebenden der Nazibarbarei, die wieder etwas Lebensfreude gewannen beim Ansehen eines Spiels von Red Star in diesem Stadion: Erhalten Sie Bauer, ein Symbol des widerständigen Volkes!

Nun ist es nicht so, dass derlei Worte und Werte keinen Widerhall fänden. Die besondere kulturelle Bedeutung von Ort und Verein wird auch auf der politischen Ebene durchaus anerkannt. So sagte die Bürgermeisterin Rouillon anlässlich der Rückkehr des Clubs ins Stade Bauer im Jahr 2002: „Red Star bewahrt sich durch die Ausbildung der Jugendspieler eine Ethik, er [der Verein] transportiert andere Werte als der übrige Fußball.“ Wieviel von dieser Aussage auch künftig noch Gültigkeit hat, wird sich auf der politischen Ebene entscheiden. So hat die noch immer amtierende Bürgermeisterin heute, mehr als eine Dekade später, nach dem Auftritt des Collectif im Rathaus zwar die Erstellung einer Machbarkeitsstudie nebst Kostenplan zugesagt. Doch - rein zufällig? - dauert deren Erstellung ein halbes Jahr, sodass sie erst nach den Wahlen vorliegen wird. Und gerade die Bürgermeisterin hat schon mehrfach vorsichtig die „Docks“ ins Spiel gebracht. Doch eine eindeutige Positionierung wird man von ihr nicht hören: Noch ist Wahlkampf in St-Ouen. Wie auch immer die Wahl ausgeht, das Damoklesschwert schwebt in jedem Fall über Bauer. Denn bei einem Abriss des Stadions wird die Fläche zu Bauland, das auf Grund seiner Lage Höchstpreise verspricht. Zudem ist St-Ouen ist die Kommune mit der dritthöchsten Pro-Kopf-Verschuldung Frankreichs. So droht die ganze Geschichte am Ende den üblichen Mechanismen von Immobilienprojekten und Spekulationsblasen zu folgen. Doch das wird Gegenstand einer anderen Geschichte sein, die erst noch zu schreiben sein wird.

Die Geschichte von Christoph Heshmatpour, der ein Jahr lang innerhalb und jenseits der Stadtgrenzen von Paris lebte, streift all dies und deutet in ihrem Facettenreichtum weit über den Fußball hinaus; Heshmatpour wirft auf ebenso humorvolle wie kurzweilige Weise ein Schlaglicht auf die Menschen, Einheimische wie Touristen, die Dynamik der Metropole und ihre Kultur im Wandel.


Joachim Henn

Freitag, 23. August 2013

"Ich hoffe, die Gerechtigkeit wird siegen"

Hannes Kartnig wartet auf seinen Berufungsprozess. Wie geht es ihm eigentlich?

"Falter" Nr. 39 / 2012 vom 26.09.2012 Seite: 53
Ressort: steiermark

Erkundung: Christoph Heshmatpour



Er ist kein Mensch, der sich durch besondere Tiefstapelei auszeichnet. Der Falter trifft Hannes Kartnig - oder besser gesagt: Kartnig gewährt Audienz - an einem sonnigen Septembernachmittag auf der Terrasse des Grand Hotels an der Wiener Ringstraße, eine der besten Adressen der Stadt. In der Lobby hängen prächtig funkelnde Luster, die Kellner tragen Fliege und servieren diskret. Kartnigs unablässig bimmelndes Smartphone steckt in einer goldfarbenen Hülle. Als der ehemalige Justizminister Dieter Böhmdorfer, auch als einstiger Haus- und Hofanwalt Jörg Haiders bekannt, einige Tische weiter Platz nimmt, begrüßen die beiden einander herzlich mit "der beste Justizminister“ und "der beste Präsident“. "Der Böhmdorfer, weißt eh noch, oder?“, raunt Kartnig. "Ich kenn sie alle.“

Und alle kennen ihn. Hannes Kartnig, 60, ist ein korpulenter Mann mit Fünftagebart und gegelter Strizzifrisur. Früher einmal war er Präsident des Fußballvereins Sturm Graz. Der Club gewann unter Kartnig 1998 als erster steirischer Verein überhaupt die österreichische Meisterschaft. Dreimal nahm Sturm an der Gruppenphase der europäischen Superliga Champions League teil, wurde einmal sogar Gruppensieger. Sturm Graz war plötzlich ein europaweit bekannter Fußballverein, Präsident Kartnig in Österreich weltberühmt. Der Club machte Millionen, doch die waren bald wieder weg. Hannes Kartnig, der wegen seines extrovertierten und schrillen Auftretens "Sonnenkönig“ genannt wurde, geriet in Erklärungsnotstand.

Jemand musste Hannes K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. Ungefähr so muss sich Kartnig gefühlt haben, als er im Mai 2007 plötzlich in Untersuchungshaft saß. Abgabenhinterziehung, Veruntreuung und Untreue sowie betrügerische Krida und grob fahrlässige Beeinträchtigung von Gläubigerinteressen wurden ihm vorgeworfen, in Sachen Steuerhinterziehung zeigte er sich geständig. Schließlich wurde Kartnig im vergangenen Februar in erster Instanz zu fünf Jahren unbedingter Haft und einer Geldstrafe von mehr als 6,5 Millionen Euro verurteilt, das Verfahren geht in Berufung. "Eins sag ich gleich, über die Strafe rede ich nicht“, sagt er. Dafür redet Kartnig umso lieber über Fußball. Dann hellt sich sein rundes Gesicht mit einem fast kindlichen Lächeln auf, er kneift die Augen zusammen, als müsse er Lachtränen zurückhalten. Sogar auf den Cayman Islands, das habe er dort erfahren, sei Sturm Graz ein Begriff gewesen, und überhaupt: "Die Spieler haben gut gelebt, die Journalisten haben gut gelebt, die Wirtschaft hat gut gelebt. Es gab ja genug Aufträge. Alle haben wir’s gut gehabt.“

Leute, die beim elf Monate dauernden Prozess im Grazer Straflandesgericht dabei waren, wissen zu erzählen, dass Kartnig auch im Gerichtssaal der Schmäh nie verlassen hat. Mit seinen Geschichtchen und Anekdoten brachte er das Publikum immer wieder zum Lachen. Erst am letzten Tag habe ihm gedämmert, dass das alles kein Spaß ist. Die Steuervergehen hatte er als nicht so schlimm erachtet, immerhin habe Sturm ja trotzdem genug Abgaben gezahlt. Und für unangreifbar hat er sich gehalten, weil er in Wien und Graz mächtige Freunde hatte. Doch die vielen Menschen, die einst seine Nähe gesucht hatten, als er noch der Sonnenkönig war, wollen heute nichts mehr von ihm wissen. Zumindest offiziell.

So bestritt der als Zeuge geladene Milliardär Frank Stronach, immerhin Kartnigs Trauzeuge, während des Prozesses, dass die beiden Freunde seien. Doch ein paar "Freunde“ dürften ihm schon geblieben sein, vor zwei Wochen war Kartnig beim Fußball-Länderspiel gegen Deutschland immerhin im VIP-Club geladen. Dennoch brummt er: "Zuerst wissen sie gar nicht, wie hoch sie dich tragen sollen, und dann kehren sie dir den Rücken zu.“ Das sonst an diesem Septembernachmittag so zufriedene Gesicht verdunkelt sich erstmals, Kartnig beteuert, dass er sich persönlich niemals bereichert hat.

Zu den Spielen von Sturm Graz geht Kartnig nicht mehr, aus seiner Ablehnung der aktuellen Vereinsführung macht er kein Geheimnis. Präsident Christian Jauk bezeichnet er als "Gehaltsempfänger“, der nicht einmal "ein Milliönchen“ in den Verein stecken könne. Allerdings backe er selbst mit seiner Plakatwerbefirma heute auch nur mehr "kleine Brötchen“.

Was von der Zeit mit Sturm Graz bleibt? "Nur super Erinnerungen“. Da ist es wieder, das große Kind, das einfach eine Riesengaudi hatte. "Millionen Menschen haben eine Freude gehabt“, sagt er. Und der Prozess, die Verurteilung? "Das ist in Berufung, dann schauen wir weiter“, winkt Kartnig ab. Dann sagt er etwas, das man nicht für möglich gehalten hätte: "Ich hoffe, die Gerechtigkeit wird siegen.“ F

Freitag, 5. April 2013

Der heilige Schein

In: Falter 40/2012, S. 15
Ressort: Politik



Ein neues Buch enthüllt, wer das kirchliche Wirken wirklich finanziert

Christoph Baumgarten war über die offizielle Reaktion dann doch überrascht. "Ich hätte nicht gedacht, dass die römisch-katholische Kirche Werbung für unser Buch macht“, sagt er mit einem recht zufriedenen Gesichtsausdruck. Vor einigen Tagen ist es erschienen, unter dem Titel "Gottes Werk und unser Beitrag“ beschäftigen sich Baumgarten und der deutsche Autor Carsten Frerk mit der Finanzierung der katholischen Kirche in Österreich. Das Ergebnis: "80 Prozent des kirchlichen Apparats“, sagt Baumgarten, seien öffentlich finanziert. Eine Feststellung, die die Bischofskonferenz dazu veranlasste, am Wochenende vor der Präsentation des Buchs eine Homepage online zu stellen, die diese Aussage widerlegen soll. "PR-technisch hat uns das wohl einfach nur mehr Aufmerksamkeit gebracht“, meint Baumgarten.

3,8 Milliarden Steuergeld
Die "Finanzgebarung der katholischen Kirche“ wurde nun also öffentlich gemacht. Zum überwiegenden Teil finanziere sie sich durch den Kirchenbeitrag, sagt die Kirche selbst. "Ich verstehe die Diskussion ehrlich gesagt nicht“, meint Josef Weiss, Finanzdirektor der Erzdiözese Wien. 105.175.802,72 Euro betrugen die offiziellen Einnahmen der Erzdiözese Wien im Jahr 2011, mehr als 92 Millionen davon entfallen auf den Kirchenbeitrag. "Staatsleistungen“ scheinen in dieser Aufstellung nur als durch den Staatsvertrag geregelte Entschädigungszahlungen für im Nationalsozialismus enteignete Güter auf.

Baumgarten und Frerk kommen zu dem Schluss, dass 3,8 Milliarden Euro jährlich aus öffentlichen Geldtöpfen in katholische Institutionen fließen. Christoph Baumgarten bezeichnet diese Summe als "Untergrenze“, die Geldflüsse aus unzähligen Budgets seien unübersichtlich, wahrscheinlich hätten die Autoren noch nicht alles entdeckt.

Wieso divergieren die Aussagen so deutlich? Ein Grundproblem ist, dass man das Wort "kirchlich“ sehr unterschiedlich auslegen kann. Rechtlich gesehen besteht die römisch-katholische Kirche in Österreich aus tausenden Körperschaften, jedes Kloster ist so etwas wie eine unabhängige Firma. Der Kirchenbeitrag geht auf ein Konto der Erzdiözese, die das Geld etwa zur Hälfte an die Pfarren verteilt, der Rest wird für Diözesanes aufgewandt. "So etwas wie einen Finanzausgleich mit den Klöstern gibt es nicht“, sagt Josef Weiss.

Doch zeigen die wenigen veröffentlichten Zahlen nicht, über welche Geldmittel die Kirche tatsächlich verfügt. "Dem die Überschrift ‚Finanzgebarung der katholischen Kirche‘ zu geben, ist eine so vorsätzliche Irreführung, dass man es auch als Lüge bezeichnen kann“, schreibt der Theologe und ehemalige Kommunikationsdirektor der Erzdiözese Wien, Wolfgang Bergmann, in einem offenen Brief über die Finanzgebarungs-Homepage. Er vergleicht die veröffentlichten Zahlen mit dem Versuch, die Budgets der neun Landesregierungen zu addieren und als Staatsvermögen auszugeben, ohne Bund, Gemeinden oder staatliche Betriebe in die Rechnung miteinzubeziehen.

Skandal? Darum geht´s nicht
"Es geht dabei gar nicht darum, dass das Finanzgebaren der Kirche ein Skandal oder illegal wäre“, sagt Christoph Baumgarten. "Aber die Kirche heftet sich soziales Engagement für die Allgemeinheit ans Revers und bezieht einen Imagegewinn aus Leistungen, die eigentlich staatlich finanziert sind.“ So ist etwa die soziale Hilfsorganisation Caritas zum überwiegenden Teil von öffentlichen Geldern abhängig, auch das Lehrpersonal an katholischen Privatschulen und den katholisch-theologischen Fakultäten der österreichischen Universitäten wird vom Staat bezahlt. An Ordensspitäler fließen 1,8 Milliarden Euro öffentlicher Mittel. "Die Kirche erbringt Leistungen für die Allgemeinheit, die dem Staat Geld ersparen, weil er sie sonst selbst erbringen müsste“, hält dem Paul Wuthe, Leiter des Medienreferats der Bischofskonferenz, entgegen. Er kritisiert nicht die recherchierten Zahlen der Autoren, jedoch die "einseitige Darstellung“ der Kirchenfinanzen. "Man hätte genauso gut das Buch schreiben können ‚So viel erspart die Kirche dem Staat‘.“ Schließlich bleibt, dass die Kirche ihr soziales Engagement nur mithilfe der öffentlichen Hand bewältigen kann. Ob das gut oder schlecht ist, hängt von der Sichtweise ab.



Carsten Frerk, Christoph Baumgarten: Gottes Werk und unser Beitrag - Kirchenfinanzierung in Österreich. Czernin, 284 S., € 24,90

Website des Buchs: kirchenfinanzierung.at

Katholischer Konter: kirchenfinanzierung.katholisch.at

Mittwoch, 6. Februar 2013

Der Plan des Tormanns vorm Elfmeter

Selbst wichtige Matches sollen manipuliert worden sein, sagen Experten. Was steckt hinter dem Wettskandal?

Recherche: Christoph Heshmatpour, Daniel Nutz

Das Geschäft läuft gut“, sagt der Mann hinter der Kassa. Von der Meldung, wonach Fußballspiele von einer „Wettmafia“ in zahlreichen Ländern manipuliert worden sein sollen, lässt sich die Kundschaft eines großen Wettcafés in Kagran nicht aus der Fassung bringen. Auf 30 Bildschirmen laufen gleichzeitig Übertragungen von unterschiedlichen Sportereignissen. Robuste Männer mit fahlen Gesichtern versuchen, sowohl Fernsehbilder als auch die Quoten für die anstehenden Wetten im Auge zu behalten. Gesprochen wird hier kaum. Gewettet auf fast alle Sportarten – 24 Stunden täglich, sieben Tage die Woche.

Am beliebtesten sind Wetten auf Fußball, wo drei Viertel aller Einsätze platziert werden. 3,8 Milliarden Euro setzt die Sportwetten-Branche heuer in Österreich um. Die Onlineanbieter befinden sich dabei im Vormarsch. Und in den vergangenen Jahren drängten auch immer mehr Unternehmen aus Asien auf den Markt.

Herr K. verschickt die Ergebnisse

In einem Stadion im Süden Wiens sitzt Herr K. Über eine spezielle Handysoftware notiert er Tore, Ausschlüsse und andere Besonderheiten und schickt sie laufend an seinen Auftraggeber, die Grazer Firma Runningball, weiter. „Die 50 Euro pro Partie sind relativ leicht verdientes Geld“, sagt er.

Runningball verkauft die Daten an Wettanbieter aus aller Welt weiter. Ins Blickfeld geriet das Unternehmen, als die Grazer Staatsanwaltschaft vergangene Woche in die Büroräumlichkeiten zur Hausdurchsuchung anrückte. Die Geschäftsführung beteuert, mit dem Wettskandal nichts zu tun haben.

Nachdem heutzutage auf bereits laufende Spiele noch diverse Wetten abgegeben werden können, spielt der Faktor Informationsübermittlung für die Buchmacher eine entscheidende Rolle. „Wenn ein Kunde die Information über ein Tor oder eine Rote Karte vor mir hat, macht er todsicher einen Wettgewinn“, erklärt Werner Reinwald, Buchmacher beim Online-Wettanbieter Interwetten.com. Wird zum Beispiel ein Kicker ausgeschlossen, könnten Zocker schnell auf eine Rote Karte setzen, bevor der Buchmacher von dem Ereignis erfährt.

Reinwalds Unternehmen bietet daher nur Livewetten zu Events an, bei denen es auch Fernsehbilder gibt. Gibt es zu einem Ereignis keine TV-Bilder, kommen Leute wie Herr K. ins Spiel. Dienstleister wie Runningball versorgen die Buchmacher mit den nötigen Informationen, damit diese eine Wette anbieten können. Dass der eine oder andere Kunde manchmal schneller zu Informationen kommt und diese in einen Wettgewinn ummünzt, haben die Buchmacher dabei einkalkuliert.

Ein unkalkulierbares Risiko stellen freilich Spielmanipulationen dar, wie sie seit vergangener Woche wieder einmal im Raum stehen. Bei mehr als 200 Spielen in ganz Europa sollen Spieler und Schiedsrichter bestochen und überWetten auf die manipulierten Spiele beträchtliche Gewinne eingefahren worden sein.

Die Empörung ist stets groß, doch tatsächlich sind Wettbetrug und Spielmanipulationen eine Konstante des Fußballgeschäfts. Die Skandale wie jene um den deutschen Schiedsrichter Robert Hoyzer und den italienischen Fußballmanager Luciano Moggi sind die prominentesten Fälle der vergangenen Jahre. Und es ist gar nicht so lange her, dass auch in Österreich schwere Anschuldigungen gegen Akteure eines der größten Fußballclubs des Landes erhoben wurden.

Es war im Frühling 2006. Der steirische Polizist Josef Klamminger ruft unter dem Titel „Großer Wettbetrug überschattet SK Sturm“ kurzfristig zu einer großen Pressekonferenz. Vor versammelten Medien bezichtigt er Trainer Michael Petrovic und den versierten serbischen Spielmacher Bojan Filipovic, zwei Ligaspiele von Sturm Graz an Spielmanipulatoren verkauft zu haben. Allerdings hat Sturm keine der beiden Partien verloren, Filipovic schoss sogar ein Tor.

Der Skandal kommt nach Österreich

Klamminger beruft sich auf Hinweise aus Deutschland, die aus den Ermittlungen rund um den Fall Robert Hoyzer stammen. Dieser wurde wegen Beihilfe zum Betrug zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt, sonst aber wird nach umfangreichen Ermittlungen kaum jemand belangt.

Auch in Graz wird jahrelang ermittelt, das Verfahren verläuft jedoch im Sand, heuer wurde es eingestellt. „Die Sache ist für mich erledigt“, brummt Klamminger heute. „Das Verfahren ist abgeschlossen. Ich werde sicher nichts sagen, das den Anschein erwecken könnte, dass die Geschichte von damals mit den aktuellen Entwicklungen irgendetwas zu tun hat. Es könnten falsche Schlüsse gezogen werden.“

Für Interwetten.com-Geschäftsführer Wolfgang Fabian sind die unausreichenden Konsequenzen aus der Affäre um Schiedsrichter Robert Hoyzer der Grund, warum nun ein noch größerer Wettskandal ins Haus stehen könnte. „Wenn bei asiatischen Anbietern auch Menschen aus Europa anonym, ohne Limits und bei illegalen Anbietern auf Sportevents wetten können, haben Betrüger ein leichtes Spiel.“

Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet der Berliner Wettcafébesitzer Ante Sapina – einer der Drahtzieher im Fall Hoyzer – auch in der aktuellen Wettaffäre eine zentrale Rolle spielen soll. Manipulation und Betrug scheinen tief im Fußball verwurzelt zu sein.

Das Problem ist größer als die aktuell 200 verdächtigen Spiele. Die mit dem Wettskandal befasste Bochumer Staatsanwaltschaft spricht von der „Spitze des Eisbergs“. Der kanadische Autor Declan Hill – er promovierte über Fußball und organisiertes Verbrechen – hat in seinem Buch „The Fix“ (auf Deutsch: „Sichere Siege“) schon im vergangenen Jahr vor einem „Tsunami der Spielmanipulation durch asiatische Kriminelle“ in Europa gewarnt. Selbst die größten Fußballbewerbe der Welt sollen nicht vor verschobenen Partien sicher sein, gar vier Spiele der Fußball-WM in Deutschland 2006 nennt Hill als verdächtig. Das ist nicht bewiesen, Hill stützt sich auf Indizien, einen Manipulator, der ihm die Ergebnisse dieser Partien vorausgesagt hätte.

Das weist auf ein großes Problem hin: Woran erkennt man ein manipuliertes Spiel? Das ist kaum möglich, wenn es nicht jemand offen zugibt. Selten sind alle Spieler eingeweiht. Wenige Spieler in Schlüsselpositionen reichen – der Torwart vor allem, oder der Starstürmer. Der Goalie wird dann zum Beispiel bei einem Schuss schlecht stehen, der Torjäger vielleicht im Ballbesitz ein wenig zögern, damit die Verteidiger die Situation klären können, schreibt Hill.

Betrug kaum nachzuweisen

Deshalb verwundert es nicht, wenn die Spieler und Funktionäre von Rapid Wien meinen, sie hätten von Manipulationen in den vom Europäischen Fußballverband als dubios eingestuften Spielen gegen die albanische Mannschaft Vlaznia Schkodra nichts bemerkt. Rapid hatte die Qualifikationsspiele für die Europa League 5:0 und 3:0 gewonnen, aber gegen die Albaner waren die Wiener sowieso Favorit. So gehen die Manipulatoren laut Hill oft vor: Sie setzen auf Favoritensiege vor allem in Frühphasen angesehener Bewerbe wie der Europa League, in denen Mannschaften relativ bestechlich sind. Die Warnsysteme der Wettanbieter – sie schlagen Alarm, wenn Volumen von Wetten verdächtig hoch sind – erkennen in dem Fall kaum Unregelmäßigkeiten.

Die Empörung um den Wettskandal ist groß, doch bald sind die Geschichten vergessen. So wie Luciano Moggi, Ante Sapina oder Robert Hoyzer Figuren aus einer vergangenen Welt zu sein schienen. Der Zirkus geht weiter, wie immer, und finstere Gestalten werden versuchen, ihn zu manipulieren. Der nächste Tsunami kommt bestimmt.

"Falter" Nr. 49/09 vom 02.12.2009 Seite: 48
Ressort: Stadtleben


Literaturtipp:
Declan Hill: Sichere Siege. Fußball und organisiertes Verbrechen. Kiepenheuer und Witsch, 416 S., € 15,40

Mittwoch, 30. Januar 2013

Über die Ski-Weltmeisterschaft


Es ist also wieder einmal Ski-Weltmeisterschaft, und allerorts wird so getan, als sei das wichtig. Aber sprechen wir es aus, auch wenn die Kronen-Zeitung und das staatliche Fernsehen anderes behaupten: Eine Ski-Weltmeisterschaft ist so ziemlich das wertloseste Sport-Ereignis der Weltgeschichte.


Welchen Sinn hat es, alle zwei Jahre ein beliebiges Rennen auf einem beliebigen Berg mitten in der Saison zur „Weltmeisterschaft“ zu erklären? Der Weltcup findet den ganzen Winter über statt, die besten Skifahrer der Welt messen sich mehrmals wöchentlich im Wettkampf, und am Ende wird zusammengezählt, wer über das Jahr die konstanteste Leistung geboten hat. Wir haben schon eine echte Weltmeisterschaft: Sie nennt sich Weltcup. Und diese geht uns sowieso schon genug auf die Nerven. Wie oft pro Winter muss "How I Met Your Mother" dem Riesentorlauf der Damen aus einem verlassenen Alpendorf weichen? Und warum?

Irgendwann mitten in der Saison wird gesagt: Wer heute gewinnt, der ist Weltmeister. Das erinnert an Volksschulkinder, die Fußball spielen. Wenn die schlechtere Mannschaft müde wird und nachhause gehen will, weil sie die Niederlage deprimiert, haben die stärkeren Kinder ein verlockendes Angebot: „Das nächste Tor gewinnt.“ Also werfen sich alle noch einmal mit aller Kraft in die Schlacht, versuchen, trotz der ständigen Überlegenheit der Besseren ein entscheidendes Tor zu schießen, um doch noch als Sieger aus dem Spiel hervorzugehen, obwohl sie objektiv schlechter sind.

Nach genau diesem Muster läuft die Ski-Weltmeisterschaft ab. Anfang Februar hat der überwiegende Großteil der Weltcup-Teilnehmer keine Chance mehr auf eine gute Platzierung. Also wird mit der Weltmeisterschaft eine Möglichkeit geschaffen, die jeden und jede völlig zufällig an die Spitze der Ski-Welt spülen kann. Wer erinnert sich überhaupt noch an den kanadischen Abfahrts-„Weltmeister“ John Kucera, der in Val d’Isère 2009 gewann, obwohl er vorher noch nie in einem Weltcup-Rennen auf dem Podest gestanden war? Heißt das, dass Mister Kucera der beste Abfahrer seiner Zeit war? Natürlich nicht. Außerdem war sein Erfolg dadurch begünstigt, dass der Großteil der anderen Fahrer durch eine Nebelsuppe fahren musste, während er zufällig freie Sicht hatte. Trotzdem ist Kucera nun ein „Weltmeister“.

Aber was ist das wert? Und was ist der Weltmeistertitel von anderen One-Hit-Wonders wert? So nichtssagende Namen wie Mélanie Turgeon (Abfahrt St. Moritz 2003), Zali Steggall (Slalom Beaver Creek 1999) oder Urs Lehmann (Abfahrt Morioka 1993) zählen zu den Weltmeistern der vergangenen zwei Jahrzehnte. Zu Recht haben wir sie längst vergessen. Sie sind die Lou Begas und Las Ketchups der Ski-Welt.

Man könnte den Spieß aber auch umdrehen. Ein weiterer Vorschlag aus der Welt des Kindersports: Machen wir doch einfach alle Sieger zu Weltmeistern! Wenn jedes einzelne Skirennen zu einer eigenen Weltmeisterschaft erklärt wird, besteht für viel mehr Menschen die Möglichkeit, einmal Weltmeister zu werden. Irgendwann gewinnt jeder einmal ein Rennen, Zufallssieger gibt es nämlich nicht nur bei Weltmeisterschaften. So wird der Skizirkus zum ausufernden Schulsportfest, wo auch für das unbeweglichste und dickste Kinder ein Bewerb dabei ist, in dem es sich eine Medaille abholen kann. Gell, Patrick Ortlieb?

Nun kann eingewandt werden: Warum immer so negativ? Es haben doch alle Sportarten Weltmeisterschaften! Und natürlich lautet der Gegen-Einwand: Auch Weltmeisterschaften im Bobfahren, Langlaufen oder Skispringen sind völlig wertlos. Weltmeisterschaften in allen Sportarten, in denen die Besten der Welt sowieso wöchentlich gegeneinander antreten, dürfen getrost abgeschafft werden. Der Unterschied: Schwimmer und Leichtathleten bereiten sich getrennt voneinander in kleinen Rennen auf das entscheidende Treffen bei der Weltmeisterschaft vor, Fußball-, Handball- oder Eishockey-Mannschaften qualifizieren sich in einem aufwendigen Qualifikationsprozess für das große Turnier. Doch es wird schon einen Grund geben, warum zum Beispiel im Profi-Tennis keine Weltmeisterschaft ausgetragen wird. Weil sie keiner braucht, zum Beispiel.