wie du vielleicht schon erfahren hast, habe ich ein Buch geschrieben. Derzeit bin ich noch dabei, mit diversen eBook-Programmen rumzuspielen, damit ich es online stellen kann. Ich werde das Buch nicht auf Papier herausbringen - zu teuer. Ich werde es auch nicht Amazon, dem Holtzbrinck-Verlag oder Apple in den Rachen werfen - ich habe es zum Spaß geschrieben, warum soll ich jetzt plötzlich beginnen, Geld dafür zu verlangen? Dennoch bietet mir das Internet die Möglichkeit, es anderen Menschen zur Verfügung zu stellen, die an der Materie Interesse haben.
Und ich glaube, ich habe einen Titel gefunden: "Bienvenue en Banlieue Rouge - Mein Jahr mit dem Red Star FC". Nicht besonders originell, aber was soll's.
Um die Wartezeit zu verkürzen, veröffentliche ich hier vorab das Vorwort, das mein lieber Freund Joachim Henn geschrieben hat.
Liebe Leserin, lieber Leser,
dies ist die Geschichte des Studienjahres 2011/12, das ich als
Austauschstudent an der Université Paris
III Sorbonne Nouvelle verbracht habe. Während dieses Jahres habe ich eine
Obsession für den Red Star FC entwickelt, den Fußballclub des Stadtviertels, in
dem ich wohnte. Vereine wie Red Star gibt es nur noch wenige in Europa. Durch
die fortschreitende Ökonomisierung des Fußballsports ist die Fußballerfahrung,
die ich während dieses unvergesslichen Jahres gemacht habe, bedroht. Auch der
Red Star FC steht vor einschneidenden Veränderungen. Das Stadion, in dem seit
1909 die Heimspiele ausgetragen werden, steht vor dem Abriss. Da die Bedrohung
in meinem Buch nur am Rande besprochen wird, habe ich Joachim Henn gebeten, das
Vorwort zu diesem Text zu leisten. Joachim Henn war zu Beginn der 90er-Jahre
als junger Mann ein halbes Jahr in Paris, hat ebenso wie ich eine Obsession für
den Red Star FC entwickelt und ist der größte (einzige) Red-Star-Experte im
deutschsprachigen Raum. Wenn der eine oder andere Leser, die eine oder andere
Leserin sich unserem Engagement für das Weiterbestehen des Stade Bauer anschließt, so haben wir unser Ziel erreicht.
Christoph Heshmatpour, 30.
September 2013
Vorwort
Joachim Henn
An dem Abend, an dem mich
Christoph Heshmatpours Manuskript erreicht, befinde ich mich in Andalusien und
sehe im Fernsehen die Vorbereitungen zum letzten Spiel im Stadion San Mamés zu Bilbao, dem Stadion, das
die Fans „La Catédral“ getauft haben.
Ein Rednerpult ist auf dem Spielfeld aufgebaut, Spieler stehen Spalier,
Honoratioren geben sich die Ehre. Alles wirkt sehr feierlich, auf den Rängen
sieht man den einen oder anderen Zuschauer weinen. Dann zeigen sie uralte
Schwarz-Weiß-Aufnahmen vom San Mamés,
aus Zeiten des spanischen Bürgerkriegs, von Spielen im Schnee und Männern mit
alten Lederstiefeln. Im Anschluss daran erscheint eine 3-D-Animation auf dem
Bildschirm. Zweifelsfrei vom neuen Stadion. Es entsteht direkt neben dem alten.
San Mamés Barria wird es heißen. Ich
winke meine Freundin herbei.
„Guck mal, das ist das Neue.“
„Aber warum bauen sie denn ein
Neues?“
„Weil alle ein Neues bauen.“
„Das leuchtet mir nicht ein.“
Mir auch nicht.
Christoph Heshmatpours Geschichte
ist die von den Rändern des Lebens in der Metropole. Es ist die Geschichte
eines Vororts, seines Fußballvereins und damit auch seines Stadions, des Stade de Paris, das eigentlich nur noch
bekannt ist unter dem Namen Stade Bauer.
An einer Stelle seiner Aufzeichnungen charakterisiert er es etwas
despektierlich als „alten Kasten“. Damit meint er einerseits dessen Zustand,
denn seit der Orkan „Lothar“ 1999 der Gegentribüne das Wellblechdach entriss,
hat die Kommune, Eigentümerin des Stadions, zunächst einmal lediglich das
herumliegende Wellblechgerümpel und die beschädigten Holzbänke entfernen
lassen. Dort, wo die Zuschauer nur ein Jahr vor dem Sturm noch Zweitligafußball
sehen konnten, wuchert seit mehr als einem Jahrzehnt das Unkraut zwischen den
Stufen. Und auch in anderen Bereichen des Stadions geht die Instandhaltung eher
schleppend voran. Der schleichende Verfall der Spielstätte seit der
Jahrtausendwende geht einige Jahre lang aber auch einher mit dem sportlichen
Niedergang des dort ansässigen, einst so stolzen Vereins Red Star, aber dazu
später.
Mit dem „alten Kasten“ meint
Heshmatpour aber auch die unzeitgemäße Architektur des übrig gebliebenen Teils
des Stade Bauer. Die Menschen
bezeichnen sie als „englisch“, da sie angelehnt ist an die ersten großen
englischen Stadien, die Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet wurden.
Stadionarchitektur erzählt - wie jedes andere städtebauliche Element - immer
auch etwas über ihre Zeit. Architektur hilft uns, eine Brücke zu schlagen von
der Vergangenheit in die Gegenwart; zu verstehen, wie man dort hingekommen ist,
wo man sich jetzt befindet. Sieht man sich die heutigen Stadien an, gleicht
eines wie ein Ei dem anderen. Ob man sich im Inneren beispielsweise der Arenen
Hamburg oder Gelsenkirchen befindet, verraten allenfalls Nuancen, und es gibt
kein Element, an dem sich das Auge festhalten und der Gleichförmigkeit im
weiten Rund entkommen kann. Das gilt genauso für kleinere Stadien mit einer
geringeren Kapazität. Ihre Architektur ist eigentlich keine Architektur mehr,
sondern bloßes Design, konfektioniert, und damit gleichen sie den Autos,
Warenhäusern, Büroblöcken und den Innenstädten unserer Zeit. Ihnen gemeinsam
ist die Tendenz zur Beschränkung auf reine Funktionalität.
Universell dürfte in weiten
Teilen Europas die Problematik der Verdrängung der Stehplätze sein, die
symbolisch für die Transformation des Stadions als Ort steht: Das Stadion war
früher nicht zuletzt ein Ort der Zusammenkunft.
Selten ist mir das bewusster geworden als an dem lauen Spätsommerabend
Anfang der 1990er, als ich mich erstmals auf den Stufen der Nordtribüne des Stade Bauer einfand. Dort bot sich mir
ein Bild lebhafter Geschäftigkeit, das mich an das Gewusel in einen Basar oder
einem Gemischtwarenladen erinnerte, aber jedenfalls an nichts, was ich bislang
in einem Fußballstadion gesehen hatte. Menschen allen Alters, aus
unterschiedlichen Gesellschaftsschichten, unterschiedlicher Herkunft und
entsprechend unterschiedlichstem kulturellem Hintergrund hatten sich dort
eingefunden und teilten sich in diesen Momenten den Raum. Ein paar standen, die
meisten aber hockten auf den Stufen. Die einen lasen Zeitung, andere hatten
sich in hitzige Debatten verbissen, wieder andere kauten gedankenverloren
Pistazien und nicht wenige hatten gleich ihr ganzes Abendessen in Plastiktüten
mitgebracht, die Bestandteile auf den Stufen verteilt und aßen. Genaugenommen
aßen sie nicht, sie picknickten. Fehlte eigentlich nur noch der mitgebrachte
Grill auf den Rängen. Diese Tribüne hatte den Charakter eines öffentlichen Platzes
und wirkte unreglementiert, frei, wild und - heute würde man sagen: bunt.
Eigentlich vermengte und verdichtete sich dort das Ambiente des einen Block
entfernten berühmten Pariser Flohmarkts der Porte
de Clignancourt mit dem von Saint-Ouen, dem ersten Vorort jenseits des boulevard péripherique, der die Pariser
Stadtgrenze markiert.
Dieses Szenario im
Stadioninneren findet man heute in dieser
Form natürlich nicht mehr - wenngleich die Einlasskontrollen noch immer legerer
sind als woanders üblich. Die hinter der gleichnamigen Straße befindliche Tribune Bauer, die Nordtribüne, ist seit
etlichen Jahren gesperrt und wird vermutlich erst nach einem etwaigen
Wiederaufstieg in die Ligue 2 wieder öffnen. Das „Vorspiel“ begeht man im Olympic, der Kneipe direkt gegenüber dem Stadion, und selbst in der Pause verlassen einige das Stadion, um dort auch
die Halbzeit sportlich zu begehen: ein, zwei Bier in knapp fünfzehn Minuten,
Bestellung sowie Hin- und Rückweg bereits inbegriffen.
Jedenfalls fristeten Fans und
Verein in diesem letzten Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende ein idyllisches
Zweitligadasein am Rande der Stadt. Zwar war man weit davon entfernt, an die
ruhmreiche Vergangenheit der 20er und 40er Jahre anzuknüpfen, als man insgesamt
fünfmal den französischen Pokal gewinnen konnte. Doch in den
Abschlussklassements der zweiten Division belegte der Club stets die vorderen
Ränge und verpasste den Wiederaufstieg in die Eliteklasse dreimal in Folge
jeweils nur knapp. Nun gab es in der Vereinshistorie von Red Star viele
verrückte Volten. Einen Wendepunkt, der sich allerdings bis zum heutigen Tag
nachhaltig auswirkt, markierte das Jahr 1998. Mit Austragung der
Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land begriff man den Fußball auch in
Frankreich plötzlich als Event. Der Fußballverband legte neue Maßstäbe für die
Spielstätten der Profivereine an, und infolgedessen sollte das Stade Bauer keine weitere
Ausnahmegenehmigung mehr erhalten: es genügte nicht mehr den
Sicherheitsstandards des Verbands und damit den Anforderungen für
Zweitligafußball. Vereinsspitze und Lokalpolitik waren zum Handeln gezwungen
und einigten sich auf eine Renovierung des Stadions. Die Verantwortlichen im Rathaus riefen einen
Wettbewerb für das „neue Bauer“ aus. Die Bauzeit bis zur Fertigstellung sollte
zwei Jahre, die neue Kapazität des Stadions 15.000 Plätze betragen.
Gleichzeitig beschloss die Regionalversammlung des Departements die Errichtung
eines „provisorischen“ Stadions, das der Club während der Bauzeit als
Ersatzspielstätte nutzen sollte: Das Stade
Marville. Soweit der Plan. Doch nur schlappe drei Kilometer entfernt vom Stade Bauer wurde zur WM das Stade de France gebaut. Und es zeichnete
sich ab, dass es nach dem Turnier keinen dort residierenden Club und
entsprechend keine Sportveranstaltungen in regelmäßigem Turnus geben sollte.
Der Erstligaclub Paris St-Germain hatte dankend abgewunken und sich für den
Verbleib im angestammten Prinzenparkstadion entschieden. Also glaubte der
damalige Präsident von Red Star, Jean-Claude Bras, die Gunst der Stunde nutzen
zu müssen und beantragte die Ansiedelung seines Clubs im 80.000 Plätze
fassenden WM-Stadion. Im Rathaus von St-Ouen schrie man Zeter und Mordio,
bezeichnete den Vorstoß Bras‘ als Verrat, entschädigte die fünf am Wettbewerb
teilnehmenden Architekturbüros und versenkte die Pläne für die geplante
Renovierung des Stade Bauer in den
Schubladen. Doch es kam alles anders: Ende September 1998 lehnte der
Französische Fußballverband den Umzug von Red Star ins Stade de France mangels wirtschaftlicher Voraussetzungen rundheraus
ab. Zu diesem Zeitpunkt war eine Rückkehr ins Stade Bauer, geschweige denn seine Renovierung, bereits passé.
Scheinbar urplötzlich war Red
Star also heimatlos geworden und fand sich in besagtem Provisorium wieder,
geografisch zwar nur 6 km, gefühlt aber Welten entfernt von der gewohnten
Spielstätte. an einer anderen Metro-Linie, noch im selben Departement, aber in
einer anderen Stadt, fernab der angestammten Umgebung. Doch die neue
Spielstätte war bei den Fans nicht nur aufgrund der veränderten geographischen
Lage von Anfang an verhasst. Der Kontrast zu Bauer hätte überhaupt nicht größer sein können. Marville hat die
Ausstrahlung eines vergessenen Tennisstadions am Rand eines von Landflucht
gebeutelten und von Schnellstraßen umrandeten Orts. Die hingeklatschte
Stahlrohrkonstruktion fasst ausnahmslos Sitzplätze, die aber nicht zum Sitzen
einladen, so wie das Provisorium an sich nicht zum Verweilen einlädt. Die Ränge
werden vom Spielfeld durch hohe Zäune und auch noch eine Laufbahn getrennt.
Dazu befindet sich der Stahlrohrkoloss in der Anonymität eines
Mehrzweck-Sportparks, eigentlich dort, wo man mittlerweile Einkaufszentren
findet: auf der grünen Wiese. Marville ist nicht einmal banlieue, Marville ist ein Nicht-Ort im Niemandsland, fernab von
allem. Kurzum: ein Stimmungstöter, in jeglicher Hinsicht. Bauer hingegen ist das
urbane Stadion schlechthin. Mitten im Wohngebiet gelegen, bietet es neben der
erwähnten Nähe zu den puces, dem
Flohmarkt, von der einzigen derzeit geöffneten, der Haupttribüne, einen
erstaunlichen Blick auf das höher gelegene Paris und bei Abendspielen auf das
beleuchtete Sacré-Coeur auf dem Montmartre. Das Stadion ist offen, das
heißt, die einzelnen Tribünen sind nicht miteinander verbunden, in der Tat
wirkt das ganze Ensemble auf eine merkwürdige Art aus der Zeit gefallen. Als
wäre es nur dazu da, den Beobachter der Darbietungen auf dem Rasen permanent
daran zu erinnern, dass es auch noch ein Leben jenseits des grünen carré gibt, steht am Kopfende des
Platzes Richtung Paris nicht etwa eine weitere Tribüne, sondern ein monströser,
dreieckiger Block sozialen Wohnungsbaus, der gleichsam das Tor zur Welt öffnet:
Es gibt ein Leben jenseits des gerade stattfindenden Spiels, und das
unablässige, gleichförmige Rauschen des périphérique
bildet den Soundtrack dafür. Die allermeisten Menschen, die dort leben, haben
mit Fußball nichts am Hut und andere Sorgen, so scheint es, und doch öffnen
sich ab und an die Fenster und man sieht den einen oder anderen das Spiel vom
Wohnzimmer aus verfolgen. Andersherum bietet genau dieses Hochhaus einen
Einblick, wenn, wie etwa im April 2009, der Verband eine Strafe verhängt und
eine Partie unter Ausschluss der Öffentlichkeit anordnet. Kassenhäuschen und
Eingang blieben an diesem Tag also geschlossen, aber in einer der dem Stadion
zugewandten Wohnungen lebte ausgerechnet ein Onkel des damaligen Kapitäns von
Red Star. So fand das Spiel zwar vor leeren Rängen statt, der Jubel über den
Siegtreffer des Heimteams wurde aber von knapp zwei Dutzend Anhängern aus einer
einzigen Wohnung auf den Platz hinuntergeschrieen.
Dieses Tor zur Welt jedoch
blieb dem Club nach 1998 für immer verschlossen. Viele sahen in diesem Umzug
ins Stade Marville sowie dem
Bras‘schen Größenwahn den Anfang vom Ende des – so hieß er damals - AS Red Star
93. Und die bloßen Fakten geben ihnen recht: Am Ende derselben Saison stand
nicht der ersehnte Wiederaufstieg in die erste Liga, sondern der Abstieg aus
der zweiten. Was folgte, waren chaotische Jahre mit einem weiteren sportlichen
und einem Zwangsabstieg, leeren Kassen und schlussendlich im Sommer 2002 die
Liquidation des Vereins. Der Nachfolgeverein wiederum, der Red Star FC, von dem
in diesem Buch die Rede ist, benötigte fast eine Dekade, um sich nach diesem
tiefen Fall bis hinunter in die Untiefen der sechsten Liga wenigstens wieder in
die Drittklassigkeit hochzuarbeiten. Und viele sehen in der Rückkehr ins Stade Bauer einen entscheidenden Faktor
für die Rückkehr auf die französische Fußball-Landkarte. Die fast einhellige
Meinung war damals: Red Star kommt zurück nach Hause. Diesen Teil der
Geschichte muss man kennen, wenn man die aktuellen Geschehnisse begreifen will,
denn wieder machen verwegene Pläne die Runde, kaum, dass sich Red Star nach all
den Jahren gerade eben mühsam in der Drittklassigkeit etabliert hat.
In jener Zeit um die
Jahrtausendwende formierte sich das Collectif
des amis du Red Star als loser Zusammenschluss von Fans, die unabhängig vom
Verein und der Vereinsspitze zu agieren und, als direkte Konsequenz der Ära
Bras, den Verein nicht in all seinen Exzessen zu begleiten und unterstützen
gedenken. An Spieltagen nutzen sie mit städtischer Genehmigung einen etwa fünf
mal zwei Meter großen Verschlag innerhalb der Stadionmauern, das local. Es fungiert zum einen als
Verkaufsraum von selbst produzierten Fan-Devotionalien, zum anderen aber auch
als Ort des Informationsaustauschs. Im Laufe der Zeit ist aus der
Unabhängigkeit des Collectif vom
Verein ein Selbstverständnis gewachsen. Es speist sich aus einer breiten
Akzeptanz bis hinein ins Rathaus und manifestiert sich in einem mittlerweile
erweiterten Wirkungskreis: Statt sich wie bislang im Wesentlichen auf die
Organisation von Auswärtsfahrten, die Produktion von Schals und
Spendensammlungen für wohltätige Zwecke zur Weihnachtszeit zu konzentrieren,
sind nun ganz andere Aktivitäten in den Vordergrund gerückt. Denn wie bereits
angedeutet scheint sich die Geschichte unter leicht geänderten Vorzeichen zu
wiederholen: Der aktuelle Präsident von Red Star träumt den Traum vom „zweiten Club
von Paris“, also der Besetzung des Vakuums in der Pariser Fußballlandschaft
hinter dem obligatorischen Paris St-Germain. Dies umso mehr, als die Geschicke
des aktuellen französischen Meisters mittlerweile von arabischen Scheichs
geleitet werden, die Glitzer- und Glamour-Welt in den Prinzenpark Einzug
gehalten und den (letzten Rest) erdigen Fußballs verdrängt hat. Seine Vision,
genannt „le projet“, verknüpft der
Vereinsboss untrennbar mit dem Bau eines neuen Stadions auf einer
Industriebrache am Stadtrand. Bauer
hingegen soll zu einem undefinierten Zeitpunkt ab 2017 der Rücken gekehrt
werden. Endgültig.
Eine klare Positionierung des Collectif hierzu hat nicht lange auf
sich warten lassen. Fast zwangsläufig war die Umbenennung in Collectif Red Star Bauer. Bauer, so
sagen viele Fans, wenn sie vom Stadion reden, sei die Seele des Vereins. Den
Kampf für den Erhalt des Stadions und seine Renovierung begreifen die
Mitglieder aber auch als Kampf um einen gemeinsamen Ort, als Verteidigung
berechtigten öffentlichen Interesses, um die Definition von öffentlichem
und/oder privatem Raum, im weitesten Sinn um das Recht auf Stadt. Mit diesem
Widerstand bewegen sie sich freilich ganz in der Tradition des Vereins und den
Spuren seiner Geschichte. So war Jean-Claude Bauer, Namenspatron von Stadion
und der Straße vor der Spielstätte, ein in St-Ouen niedergelassener Arzt und
Mitglied der Résistance während der
Besetzung Frankreichs durch die Nazis. Er war Mitbegründer der Zeitschrift Le médecin français, die den Ärzten als
Plattform für Meinungsäußerungen und Austausch im Widerstand dienen sollte und
organisierte die Volksfront zur Befreiung und Unabhängigkeit Frankreichs. 1942
wurde er von der französischen Polizei verhaftet, an die Nazis ausgeliefert,
von diesen gefoltert und schließlich hingerichtet. In jährlichen Gedenkfeiern
der Kommune für die Opfer der nationalsozialistischen Besetzung ist Bauer ein
ebenso präsenter Name wie der von Rino della Negra. Della Negra war
Freischärler und Partisanenkämpfer und wurde 1944 im Alter von 21 Jahren von
den Nazis hingerichtet. Im Abschiedsbrief an seine Familie bestellt er unter
anderem Grüße an seine Mitspieler und den ganzen Verein, denn er war als
hoffnungsvolles Talent im Alter von 19 Jahren zu Red Star gewechselt und hatte
trotz seines Status als Immigrant ohne Aufenthaltsgenehmigung weiter für den
Verein gespielt. Anlässlich seines 60. Todestages wurde eine Gedenkplakette am
Stadion angebracht, eines von vielen Elementen, die das Gedenken an den
talentierten Außenstürmer aufrechterhalten. Noch kurz vor seiner Hinrichtung
hatte er an einen Freund folgende Worte geschrieben: „Im Leben gibt es keine
Zuschauer. Der Vorhang öffnet sich. Ich liebe euch, ihr Menschen. Seid
wachsam!“
Nicht wenige der Menschen, die
zu den Spielen von Red Star gehen, sind ausgesprochen wachsam hinsichtlich der
Entwicklungen im Sport, die immer auch gesellschaftliche Entwicklungen sind,
und die auch ihren Verein betreffen, der Gefahr läuft, zum Spielball zu werden
für wirtschaftliche Interessen im Hintergrund. Als die Werbung an den Sport
andockte, an die Emotionen, die er bei den Menschen freisetzt, und gleichzeitig
Spitzensport durch finanzielle Unterstützung ermöglichte, entstand zwischen dem
Sport und der Werbewirtschaft eine Wechselwirkung. Das nannte man
„Sportsponsoring“, der Mehrwert des Werbenden sollte der
Unternehmenskommunikation zu Gute kommen. Und hier kommt Patrice Haddad ins
Spiel, der Präsident von Red Star. Er ist ein Mann der Kommunikations- und
PR-Branche und gleichzeitig, zumindest bis zum heutigen Tag, Alleinaktionär des Vereins.
Doch neben dem klassischen Sportsponsoring finden sich mittlerweile ganz andere Formen der wirtschaftlichen Verflechtungen in den Sport hinein. Heute gibt es Oligarchen und Multimilliardäre, die Vereine als Spielzeug betrachten und zum Beispiel Statuen von verstorbenen Popstars ohne jeden Bezug zum Club vor dem Eingang zum Stadion errichten lassen. Der Bezug, sagt der Milliardär, ist meine persönliche Freundschaft zum Verstorbenen, und die Fans, denen diese Statue nicht passt, sollten sich gefälligst einen neuen Verein suchen. Neben solchen „Modellen“ gibt es Konzerne, die früher Betriebssportabteilungen unterhielten. Doch die Konzerne betrieben im Laufe der Zeit deren kontinuierliche Professionalisierung, die die Betriebsmannschaften zu einem ausgezeichneten Werbeträger und Aushängeschild machten. Und dann gibt es mittlerweile eine weitere Form, einen international agierenden Konzern, der Vereine „schluckt“, umbenennt, neu gründet, und das Verhältnis zum Sport umkehrt: Hierbei wird der Sport ausschließlich aus Gründen der Werbewirksamkeit betrieben. Der Verein ist ein künstliches Gebilde, das den Namen des Vereins benutzt, um die eigene Marke zu bewerben.
So weit wird es bei Red Star
vermutlich nicht kommen, aber auch Patrice Haddad spricht vom Etablieren einer
Marke, der Marke „Red Star“. Das verrät schon viel über sein Verständnis des
Vereins und dessen künftiger Ausrichtung. Genau genommen scheint er sich des
Vereins, dessen Name auf Grund seiner Vergangenheit durchaus noch eine
(zumindest frankreichweit) unbestrittene Strahlkraft hat, schlichtweg bedienen
zu wollen, ohne Rücksicht auf seine Historie und Identität zu nehmen,
geschweige denn, diese einzubeziehen. Kern und Symbol für seine Vision ist sein
Stadionprojekt: Das Stade Bauer sei
nicht mehr zeitgemäß. Ein neues Stadion auf dem Gelände einer ehemaligen
Raffinerie, einer kontaminierten Industriebrache, den „Docks“, soll errichtet
werden, (schon wieder) in einem derzeitigen Niemandsland, das gleichzeitig
erschlossen werden soll. Dass dabei das Herz des Vereins, der seit Jahrzehnten
und Generationen angestammte Ort der Zusammenkunft weichen soll, ist für Haddad
zwangsläufig. Dazu müsse nach seinem Verständnis lediglich „die DNA des Clubs
verpflanzt“ werden. Für den überwiegenden Teil der Fans handelt es sich
vermutlich eher um eine Operation am offenen Herzen, aber nicht mit dem
Skalpell, sondern mit Baggern und Planierraupen, um Haddads Bild aufzugreifen.
Dazu will er sich
Unterstützung von der Industrie holen und wähnt mit im Boot unter anderem die
Bauriesen Bouygues und Vinci, öffentlichkeitswirksam
präsentiert nach einem heimlich anberaumten Meeting in einem Nobellokal in St-Ouen.
Und so, um es mit dem alten Marx zu sagen, scheint sich die Geschichte
tatsächlich ein zweites Mal zu ereignen: Nach der großen Tragödie droht nun die
lumpige Farce. Denn zwei Parteien des Betreiberkonsortiums des Stade de France sind genau diejenigen,
die mit Haddad am Tisch saßen: Vinci,
Baukonzern und laut Wikipedia Weltmarktführer im Baugewerbe, sowie Bouygues, Konzern für Hoch- und Tiefbau,
Bauträger und Telekommunkation und nebenbei einer der Vereinssponsoren.
Dass sie als wichtigste Fangruppierung
nicht zu diesem Meeting eingeladen oder wenigstens darüber informiert war, ja
dass der Präsident im Nachgang nur noch intern, aber niemals öffentlich die
Kommunikation mit der Vereinigung gesucht hatte, erzürnte das Collectif. Dabei ist, und das ist das
Groteske an Haddads Plänen, das Umfeld des Vereins, wie auch aus Christoph
Heshmatpours Aufzeichnungen deutlich wird, völlig überschaubar. Zugespitzt
gesagt kennt hier jeder jeden, und in besseren Zeiten begrüßte der Präsident
auf dem Weg ins Stadion die Umstehenden und Geschäftigen am local per Handschlag. Kein Wunder, denn
die Zuschauerzahlen sind überschaubar und überschreiten selten die 1.500.
Selbst zu Zweitligazeiten kamen nur gegen Traditionsvereine wie Saint-Étienne
oder Marseille, die sich kurzfristig in die Niederungen des Unterhauses verirrt
hatten, wesentlich mehr als die üblichen Verdächtigen. Die Stadionkapazität ist
derzeit völlig ausreichend, die Umzugspläne basieren, rein wirtschaftlich
betrachtet, auf einem Potenzial, das erst noch geweckt werden muss, für den
Zeitpunkt des Wiederaufstiegs in die 2. Liga, der erst noch errungen werden
muss – und selbst unter diesen Umständen ist fraglich, ob sich diese Vision
durchsetzen könnte: Es scheiterten schon mehrere Versuche kläglich, einen
zweiten großen Verein in Paris zu etablieren, der nicht aus sich selbst heraus
gewachsen ist. Und ohnehin wird Red Star, wenn überhaupt, in Paris als Verein
der banlieue wahrgenommen. Alles in
allem eine Vision mit sehr vielen Fragezeichen.
Doch dessen ungeachtet
scheinen sie überall so abzulaufen, die Geschäfte: In Hinterzimmern, auch und
gerade über die Köpfe von Betroffenen hinweg. In so einer Gemengelage stört der
aufgeklärte Fan nur. Er soll gefälligst ins Stadion kommen und seine Funktion
als Statist, Kulissengeber und Konsument wahrnehmen: Beifall klatschen,
konsumieren und dann bitte schön die Schnauze halten. Und genau hier setzt das Collectif Red Star Bauer an. Die
Gruppierung will eine öffentliche Debatte über die Zukunft des Stadions in Gang
bringen und setzt hierzu alle Hebel in Bewegung, nicht zuletzt über den Weg ins
Rathaus, wo man den nicht schlecht staunenden versammelten Stadträten und der
Bürgermeisterin mit Hilfe zweier Architekten einen umfassenden, je nach
sportlicher Situation und Bedarf stufenweise umsetzbaren Umbauplan für Bauer unter Einbeziehung
stadtplanerischer Optionen und Einbindung des ganzen Viertels präsentiert.
Schon allein das entschlossene und unerwartet professionelle Auftreten im
Rathaus macht Eindruck. „Die haben“, erzählt der Lange vom Collectif schmunzelnd, „allen Ernstes geglaubt, da kommt eine Horde
Fans mit Schals und Dosenbier.“ Bei Stadtfesten und sonstigen Veranstaltungen
im Ort macht das Collectif Öffentlichkeitsarbeit,
hat eine neue Webseite aufgezogen (www.stadebauer.fr), auf der alle
erarbeiteten Pläne und Entwürfe im Detail sowie neueste Entwicklungen abzurufen
sind, knüpfte Kontakte ins In- und Ausland und zeigte im Stadion mit
Transparenten und im Wahlkampf für die anstehenden Bürgermeisterwahlen Flagge:
Nicht für eine der Parteien, sondern für die ureigene Sache, zu der die
politische Ebene Stellung beziehen muss, denn das Stadion ist noch immer in
städtischem Besitz. Die Vereinigung der ehemaligen Spieler hat mittlerweile
offiziell ebenso Position für Erhalt und Renovierung des Stade Bauer ergriffen wie der Vereinschronist: Die Palastrevolution
ist im Gange.
Bei so viel Gegenwind kam
Vereinsboss Haddad schließlich nicht mehr umhin, die Interessierten zu einer
weiteren, diesmal öffentlichen Veranstaltung zu laden, um im Beisein von
Sportdirektor Marlet (von dem auf den folgenden Seiten noch das eine oder
andere Mal die Rede sein wird) sein Projekt vorzustellen: Neben dem Stadion
soll auch gleich noch eine Multifunktionshalle aus dem Boden gestampft werden,
das alles für 200 Mio. €, die er ausschließlich aus Mitteln der
Privatwirtschaft auftreiben will, und die den Verein zum alleinigen Eigentümer
des Stadions machen sollen. Aufklärung darüber, wie er eine solche Summe in wirtschaftlich
unsicheren Zeiten bei derart vagen Renditeaussichten auftreiben will, bleibt er
schuldig. Alle Bedenken gegen sein zumindest derzeit völlig überdimensioniertes
Vorhaben wischt er ebenso vom Tisch wie die vom Collectif entwickelten Alternativen, freilich ohne diese auch nur
in Erwägung zu ziehen, geschweige denn zu prüfen: „Der Kampf um Bauer kann
nicht gewonnen werden“, lässt er wissen. Der Großteil der Anwesenden sieht das
naturgemäß etwas anders.
Unter ihnen befindet sich auch
Bernard Dubois, ehemaliger Spieler des Vereins und in der vierten Generation
wohnhaft in St-Ouen. Er appelliert in einem offenen Brief an die Bürgermeisterin,
das kulturelle Erbe des Stadions zu erhalten. Er schreibt:
In meiner Kindheit gab es die Ferienkolonie, das
Patronat, die Michelet-Schule mit ihrem zugehörigen Stadion etc., und es gab… Bauer.
Wissen Sie, Madame, was sich alles auf diesem Rasen zugetragen hat? Auf diesem
mythischen Gelände spielten sich weit mehr als nur Fußballspiele ab. Wie können
Sie es zulassen, dass dieses Stadion, das den Namen eines von den Faschisten
ermordeten Widerstandskämpfers trägt, zerstört wird? […] Wollen Sie es
zulassen, dass diese Tribünen, auf denen die Überlebenden der Schoah neben
meinem Vater – im Alter von 18 Jahren von den Nazis „kassiert“ – saßen, den
Bulldozern der entfernten Cousins der Menschen überlassen werden, die die Nazis
dem Widerstand vorzogen? Wollen Sie einen Sportplatz dem Showbiz ausliefern?
[…] Im Namen all der Überlebenden der Nazibarbarei, die wieder etwas
Lebensfreude gewannen beim Ansehen eines Spiels von Red Star in diesem Stadion:
Erhalten Sie Bauer, ein Symbol des widerständigen Volkes!
Nun ist es nicht so, dass
derlei Worte und Werte keinen Widerhall fänden. Die besondere kulturelle
Bedeutung von Ort und Verein wird auch auf der politischen Ebene durchaus
anerkannt. So sagte die Bürgermeisterin Rouillon anlässlich der Rückkehr des
Clubs ins Stade Bauer im Jahr 2002:
„Red Star bewahrt sich durch die Ausbildung der Jugendspieler eine Ethik, er
[der Verein] transportiert andere Werte als der übrige Fußball.“ Wieviel von
dieser Aussage auch künftig noch Gültigkeit hat, wird sich auf der politischen
Ebene entscheiden. So hat die noch immer amtierende Bürgermeisterin heute, mehr
als eine Dekade später, nach dem Auftritt des Collectif im Rathaus zwar die Erstellung einer Machbarkeitsstudie
nebst Kostenplan zugesagt. Doch - rein zufällig? - dauert deren Erstellung ein
halbes Jahr, sodass sie erst nach den Wahlen vorliegen wird. Und gerade die
Bürgermeisterin hat schon mehrfach vorsichtig die „Docks“ ins Spiel gebracht.
Doch eine eindeutige Positionierung wird man von ihr nicht hören: Noch ist
Wahlkampf in St-Ouen. Wie auch immer die Wahl ausgeht, das Damoklesschwert
schwebt in jedem Fall über Bauer.
Denn bei einem Abriss des Stadions wird die Fläche zu Bauland, das auf Grund
seiner Lage Höchstpreise verspricht. Zudem ist St-Ouen ist die Kommune mit der
dritthöchsten Pro-Kopf-Verschuldung Frankreichs. So droht die ganze Geschichte
am Ende den üblichen Mechanismen von Immobilienprojekten und Spekulationsblasen
zu folgen. Doch das wird Gegenstand einer anderen Geschichte sein, die erst
noch zu schreiben sein wird.
Die Geschichte von Christoph
Heshmatpour, der ein Jahr lang innerhalb und jenseits der Stadtgrenzen von
Paris lebte, streift all dies und deutet in ihrem Facettenreichtum weit über
den Fußball hinaus; Heshmatpour wirft auf ebenso humorvolle wie kurzweilige
Weise ein Schlaglicht auf die Menschen, Einheimische wie Touristen, die Dynamik
der Metropole und ihre Kultur im Wandel.
Joachim Henn